Wir leben in einer Gesellschaft, die sich nur durch Steigerung erhalten kann (siehe Vortrag von Hartmut Rosa),
die also von Wachstum abhängig ist. Die steigende Produktion muss aber
auch Abnehmer finden. Würden wir nur das kaufen und konsumieren, was wir
benötigen, wäre das Ende der Fahnenstange schnell erreicht. Und hier
kommt die Konsumgesellschaft ins Spiel. Wer diese
Gesellschaftsformation, die sich in den USA etwas früher, in Westeuropa
nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet und in den 1980er Jahren
vollständig durchgesetzt hat, verstehen will, dem sei die Lektüre von
Zygmunt Baumans 2007 erschienenen Buchs "Consuming Life" empfohlen, das
auch in deutscher Übersetzung vorliegt:
- Zygmunt Bauman (2009), Leben als Konsum, Hamburger Edition.
Dieses Buch und damit eine Analyse zentraler Elemente der
Konsumgesellschaft wird im folgenden Text vorgestellt. Alle nicht
anderweitig gekennzeichneten Zitate stammen daraus.
Kennzeichen der Konsumgesellschaft
Die in der Gesellschaft der Produzenten aufgewachsenen Älteren unter uns
sind an folgendes Szenarium gewöhnt: Es gibt auf der einen Seite
Objekte, die gewählt bzw. gekauft und konsumiert werden, und auf der
anderen Seite Subjekte, die wählen, kaufen, konsumieren. Oder anders
ausgedrückt: Waren und Käufer. Wenn man dieses Modell auf die
Konsumgesellschaft überträgt, geht man an der Wirklichkeit vorbei, weil
in ihr jeder Käufer (Subjekt) gleichzeitig Ware (Objekt) ist.
Wenn junge Menschen im Internet ihre persönlichen Daten, Merkmale und
Gewohnheiten preisgeben, dann deshalb, weil sie (vielleicht unbewusst)
verstanden haben, dass sie Ware sind. Wer unsichtbar bleibt,
verschwindet als Ladenhüter in den Magazinen. Als Ware ist der Mensch
z.B. potentieller Lebensgefährte oder Arbeitnehmer. Die
zwischenmenschlichen Beziehungen werden somit zu Begegnungen zwischen
Käufern und Waren. Dabei muss der Einzelne darauf achten, sich so zu
präsentieren, dass er als Ware attraktiv ist.
Ein Arbeitsuchender z.B. ist für einen Personalchef attraktiv, wenn er
so ungebunden und flexibel wie möglich ist, anpassungsfähig und immer
bereit für neue Aufgaben, und den die Firma entlassen kann, ohne viel
Geschrei oder gar Rechtsstreitigkeiten fürchten zu müssen.
Vergleich Produzentengesellschaft – Konsumgesellschaft
Die Gesellschaft von Produzenten ist auf Langfristigkeit,
Dauerhaftigkeit und Sicherheit angelegt. Man übt Bedürfnisverzicht in
der Gegenwart, um sich in der Zukunft dafür etwas leisten zu können, das
einem wichtiger ist. Man spart z.B. auf ein Haus oder ein Auto. In der
Konsumgesellschaft ist das sofortige Befriedigen momentaner Bedürfnisse
zum Lebensmittelpunkt geworden. Man nimmt z.B. Schulden auf, um mit
einem attraktiven neuen Auto losfahren zu können. Damit einher geht ein
von Wirtschaft und Werbung gefördertes Hasten zu immer neuen und
größeren Wünschen.
In einer solchen Gesellschaft ändert sich die Vorstellung von Zeit.
Bisher hat man sich die Zeit als eine ununterbrochene Linie vorgestellt,
die aus der Vergangenheit kommt, die Gegenwart durchläuft und sich in
die Zukunft hineinbegibt. Für die Zeitvorstellung der Konsumgesellschaft
sind die Begriffe „pointillistische Zeit“ und „gebrochene Zeit“ geprägt
worden. Man muss sie sich nicht als eine Linie vorstellen, sondern als
unverbundene Punkte.
"Pointillistische Zeit ist zersplittert, ja geradezu pulverisiert zu
einer Vielzahl von „ewigen Augenblicken“ – Ereignissen, Zwischenfällen,
Unfällen, Abenteuern, Episoden." (S. 46)
"(Das Leben ist) eine Abfolge von Gegenwart, eine Verknüpfung von
Augenblicken, die mehr oder weniger intensiv erlebt werden." (S. 47)
"Würde man eine Karte des pointillistischen Lebens zeichnen, so hätte
sie eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit einem Friedhof für
imaginäre, eingebildete oder fahrlässig vernachlässigte und unerfüllt
gebliebene Möglichkeiten." (S. 47)
Für das menschliche Verhalten hat das gravierende Folgen. Man lebt
ausschließlich in der Gegenwart, versucht, diese so gut wie möglich zu
nutzen (
carpe diem), und kümmert sich weder um die Erfahrungen
der Vergangenheit, noch um die Konsequenzen seiner Handlungen in der
Zukunft, und schon gar nicht um die Ewigkeit (
memento mori). Und man empfindet diese Handlungsweise als Ausdruck seiner individuellen Freiheit.
Bei einem Fehlschlag hätte man früher (in der Gesellschaft der
Produzenten) einen neuen Anlauf genommen, sich mehr angestrengt oder
konzentriert und vielleicht mit einem verbesserten Werkzeug gearbeitet.
In der Konsumgesellschaft wird der Plan fallengelassen. Wenn es sich um
eine Beziehung handelt, wird diese kurzerhand beendet. Der Ausruf Fausts
"Könnt ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön!"
stößt in der Konsumgesellschaft auf Unverständnis. Es wäre so, als wolle
man einen Punkt der pointillistischen Zeit zu einer Geraden verlängern
wollen.
Der Übergang von der Gesellschaft der Produzenten zur Konsumgesellschaft
wird als Entwicklung hin zu persönlicher Freiheit verstanden, der den
Menschen von vielfältigen Zwängen (Routine, verpflichtende
Verhaltensmuster, Bindungen) befreit und ihm endlich die Wahl lässt,
sich zu verhalten, wie er will. Diese angeblich freie Wahl aber ist eine
Illusion. Der Mensch kommt vom Regen in die Traufe. Er kann moralische
Zwänge abwerfen, unterliegt aber neuen Zwängen. Es sind die Zwänge des
Konsumgütermarktes, deren Gesetze nun zu Lebensgrundsätzen werden.
Man erwartet von denen, die sich diesen Regeln unterwerfen, "dass sie
sich auf dem Markt anbieten und in Konkurrenz zu den übrigen Mitgliedern
einen möglichst hohen „Marktwert“ anstreben." (S. 83) Sie müssen unter
den angebotenen Waren "jene Werkzeuge und Rohstoffe (…) finden, die sie
benutzen können (und müssen), um dafür Sorge zu tragen, dass sie selbst
„für den Konsum geeignet“ und damit markttauglich sind." (S .83) Wer
sich diesem Spiel verweigert, wird mit Exklusion bestraft.
So wenig, wie Glück und Freiheit in der Konsumgesellschaft zugenommen
haben, so wenig hat das Leid abgenommen, es ist nur anders geworden.
Früher galten Moralgesetze mit einer Fülle von Verboten, deren
Übertretung zu Schuldgefühlen und im schlimmsten Fall zu Neurosen
führten. In der Konsumgesellschaft werden die Neurosen von den
Depressionen abgelöst. Sie entstehen dadurch, dass das Übermaß an
Möglichkeiten, die die Gesellschaft bietet, zu Angst vor
Unzulänglichkeiten (Zeitmangel, Geldknappheit) führt und diese Angst
Depressionen auslöst.
Die Konsumgesellschaft wäre nicht, was sie ist, wenn sie nicht auch
dagegen ein Heilmittel anböte. Es besteht darin, die Punkte, aus der die
Zeit besteht, mit Handlungen zu füllen und von einem Punkt zum nächsten
zu eilen.
"Permanente Aktivität, bei der eine dringliche Aufgabe auf die andere
folgt, gibt einem die Sicherheit eines erfüllten Lebens oder einer
„erfolgreichen Karriere“, die einzigen Beweise der Selbstverwirklichung
in einer Welt, aus der alle Bezüge auf ein Jenseits verschwunden
sind.(…) Allzu oft ist Handeln nur eine Flucht vor dem Selbst, ein
Heilmittel gegen den Schmerz." (S.125/126).
Wie „funktioniert“ die Konsumgesellschaft?
Sie beruht auf einem inneren Widerspruch, den sie mit allen Mitteln
kaschieren muss. Auf der einen Seite ist ihr proklamiertes Ziel das
glückliche Leben, nicht irgendwann im Jenseits, sondern im Hier und
Jetzt. Auf der anderen Seite muss sie danach trachten, dass ihre
Mitglieder dieses Ziel nicht erreichen, weil das den Stillstand im
Warenumsatz und damit den Verlust des Fundaments bedeuten würde, auf dem
sie aufgebaut ist.
"Die Konsumgesellschaft floriert, solange sie erfolgreich dafür sorgt,
dass die Nicht-Befriedigung ihrer Mitglieder (und damit in ihren eigenen
Begriffen ihr Unglücklichsein) fortwährend ist." (S. 64)
Die Wirtschaft muss um jeden Preis angekurbelt werden. "Schulden zu
machen und auf Kredit zu leben, ist in Großbritannien mittlerweile Teil
des vom Staat entworfenen, abgesegneten und subventionierten nationalen
Lehrplans geworden" (S. 104). Der Wirtschaftskreislauf, der nicht
unterbrochen werden darf, besteht darin, Umsatz und Kauflust dadurch
anzukurbeln, dass immer neue und (angeblich) bessere Produkte auf den
Markt kommen und die Entsorgung der ausgedienten Produkte organisiert
wird.
Beispiele für diesen Prozess reichen von den schnurlosen Telefonen, die
immer mehr und bessere Funktionen haben müssen, um den Konsumenten davon
zu überzeugen, ihre alten Geräte zu ersetzen, bis hin zu
Online-Partnervermittlungen, die den Schwerpunkt darauf legen, ihre
Kunden dahingehend zu beraten, wie sie unerwünscht gewordene Partner
rasch und sicher loswerden können.
Die Folge von alledem ist, dass in einer Gesellschaft mit
konsumorientiertem Wirtschaftssystem "Unbehagen und Unglücklichsein, (…)
Stress oder Depressionen, lange und sozialunverträgliche Arbeitszeiten,
zerfallende Beziehungen, Mangel an Selbstvertrauen" (S. 63) zunehmen.
Die Konsumgesellschaft verspricht Glück, macht aber die Menschen
unglücklich. Damit ist der "Konsumismus (…) nicht nur eine Ökonomie des
Überschusses und des Abfalls, sondern auch eine Ökonomie der Täuschung"
(S. 65).
Körperkult in der Konsumgesellschaft
Mit dem Aufkommen der Konsumgesellschaft kann man eine gesteigerte
Hinwendung zum Körperlichen beobachten. Sonnenstudios, Fitness-Studios
und Schönheitssalons sind wie Pilze aus dem Boden geschossen.
Schönheitsoperationen haben in großem Umfang zugenommen. Warum?
In der Konsumgesellschaft ist der Mensch selber zur Ware geworden. Den
Vergleich mit der hohen Qualität des hergestellten Dings jedoch muss er
scheuen. Der Mensch schämt sich wegen der offensichtlichen
Unvollkommenheit seines Körpers (prometheische Scham). Und wähnt sich
vor die Aufgabe gestellt, seinen Körper zu vervollkommnen. "Als nackt
(…) gilt heute nicht mehr der unbekleidete Leib, sondern der
„unbearbeitete“" ( S. 80).
Körperkult auf der einen Seite, eine veränderte Haltung zur Zeit auf der
anderen haben zu der Überlegung geführt, die unzusammenhängenden Punkte
der Zeit dafür zu nutzen, sich neue Identitäten zu schaffen, um damit
das Ärgernis zeitlich begrenzten Lebens wenigstens teilweise dadurch aus
der Welt zu schaffen, dass man sich mehrere Leben zulegt. Das Mittel
dazu ist die körperliche Veränderung durch Schönheitsoperationen, wobei
von Anfang an die Möglichkeit von Folgeoperationen ins Kalkül gezogen
wird. Es gibt bereits Firmen, die Kundenkarten für Folgeoperationen
anbieten. Eine entsprechende Flatrate wird nicht lange auf sich warten
lassen.
Der Siegeszug des Fastfood
Wo keine dauerhaften Bindungen entstehen können und auch nicht erwünscht
sind, hat die Familie einen schweren Stand. Eines der
Integrationselemente ist das gemeinsame Essen meist selbst zubereiteter
und manchmal sogar gemeinsam produzierter Speisen. All das schweißte die
Gruppe zusammen und ließ Bindungen entstehen. Die Zunahme der
Beliebtheit von Fastfood, die natürlich auch – und vielleicht vor allem –
auf mangelnde Zeit und/oder Lust zurückzuführen ist, ein Essen selber
zu bereiten, hat als Folge, dass Bindungen schwerer entstehen können,
kann aber auch als Folge davon gesehen werden, dass Bindungen nicht
gewünscht sind. "Fastfood ist dazu da, die Einsamkeit einsamer
Konsumenten zu schützen" (S. 103).
Zwischenmenschliche Beziehungen
Wenn der Mensch zur Ware wird, wirkt sich das auf die
zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Aus ihnen verschwinden Fürsorge
und Verantwortung für den anderen und machen radikalem Egoismus Platz.
"Konsum ist alles, was für den „sozialen Wert“ und das Selbstwertgefühl
des Individuums von Bedeutung ist" (S. 77). In einem Ratgeber („Der
Cinderella Komplex“) warnt Colette Dowling: “Im Impuls, für andere zu
sorgen, und in der Sehnsucht, von anderen umsorgt zu werden, lauert die
schreckliche Gefahr, abhängig zu werden, die Fähigkeit zu verlieren, die
Strömung auszuwählen, die sich derzeit am besten zum Surfen eignet, und
leichtfüßig von einer Welle zur anderen zu hüpfen, sobald sie die
Richtung ändert.“
"Der Raum, den flüchtig-moderne Konsumenten brauchen, für den sie, so
der Rat von allen Seiten, kämpfen und den sie mit Zähnen und Klauen
verteidigen sollen, kann nur dadurch errungen werden, dass man andere
Menschen aus ihm hinausbefördert – vor allem jene Art von Menschen, die
fürsorglich sind und/oder die es nötig haben könnten, dass man für sie
sorgt" (S. 69).
Der ideale Konsument
„(Er) lebt von einem Augenblick zum nächsten.(…) Sein Verhalten ist
impulsiv, entweder, weil er nicht die Disziplin aufbringen kann, eine
gegenwärtige Befriedigung einer zukünftigen zu opfern, oder weil er gar
keinen Sinn für Zukunft hat. Vorausschauendes Handeln ist ihm daher
völlig fremd; was er nicht sofort konsumieren kann, hat für ihn
keinerlei Wert“ (S. 175) (Zitat aus dem Buch von Ken Auletta: The
Underclass)
Kürzer und genauer könnte man den typischen Vertreter der
Konsumgesellschaft nicht charakterisieren. Bei dem Zitat handelt es sich
allerdings um die Charakterisierung des Verhaltens eines typischen
Vertreters der sogenannten Unterschicht.