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Sonntag, 27. Juni 2021

Lösungsansätze: Nachhaltigkeit, Postwachstums- und Gemeinwohl-Ökonomie

Bislang haben wir uns drei Lösungsansätze für die grundlegenden Probleme unserer Gesellschaften angeschaut, die auf vielfältige Weise zusammenhängen und Überschneidungen aufweisen:

  • Das Konzept der Nachhaltigkeit bzw. der nachhaltigen Entwicklung,
  • die Postwachstumsökonomie bzw. -gesellschaft und
  • die Gemeinwohl-Ökonomie.
In diesem Text versuche ich eine kleine Zwischenbilanz zu den drei Konzepten:

Nachhaltigkeit / nachhaltige Entwicklung

Die am häufigsten gebrauchte Definition von "nachhaltiger Entwicklung" stammt von Lester Brown, dem Gründer des Worldwatch Institute. Sie wurde in dem Bericht "Our Common Future" der Brundtland-Kommission aufgegriffen:
"Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs."
[World Commission on Environment and Development (WCED), Our Common Future, Oxford 1987, p. 43]
Diese Definition von "nachhaltiger Entwicklung" wird zwar allgemein akzeptiert, aber sie sagt nicht viel aus. Fritjof Capra schlägt deshalb folgende Operationalisierung vor:
"Der Schlüssel zu einer funktionsfähigen Definition von ökologischer Nachhaltigkeit ist die Einsicht, dass wir nachhaltige menschliche Gemeinschaften nicht von Grund auf erfinden müssen, sondern sie nach dem Vorbild der Ökosysteme der Natur nachbilden können, die ja nachhaltige Gemeinschaften von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen sind. Wie wir gesehen haben, ist die herausragendste Eigenschaft des Erdhaushalts seine immanente Fähigkeit, Leben zu erhalten. Daher ist eine nachhaltige menschliche Gemeinschaft so beschaffen, dass ihre Lebensweisen ebenso wie ihre unternehmerischen, wirtschaftlichen und physikalischen Strukturen und Technologien die immanente Fähigkeit der Natur, Leben zu erhalten, nicht stören. Nachhaltige Gemeinschaften entwickeln ihre Lebensmuster im Laufe der Zeit in ständiger Interaktion mit anderen menschlichen und nichtmenschlichen lebenden Systemen. Nachhaltigkeit bedeutet somit nicht, dass die Dinge sich nicht verändern. Sie ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess der Koevolution."
[aus: Fritjof Capra, Verborgene Zusammenhänge. Vernetzt denken und handeln - in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, Bern u.a. 2002, S. 298]
"Nachhaltige Entwicklung" als Widerspruch in sich

Ursprünglich war Nachhaltigkeit das neue Leitbild, das Ziel, die regulative Idee. Unmerklich hat sich die Terminologie (und nicht nur sie) verschoben. Wenn nicht gleich von green economy die Rede ist, dann spricht man von "nachhaltiger Entwicklung".

"Nachhaltigkeit ja - nachhaltige Entwicklung nein", so lautet die Kritik an der mittlerweile allgegenwärtigen Kombination der beiden Konzepte Nachhaltigkeit und Entwicklung. Grund für die Ablehnung der Kombination sind Vorbehalte gegenüber dem Konzept "Entwicklung". Es mit Nachhaltigkeit kombinieren zu wollen, bedeute einen Widerspruch in sich. Während Nachhaltigkeit zur neuen ökologischen Weltsicht gehöre, entstamme der Entwicklungsbegriff der überholten mechanistischen Weltsicht (eine Gegenüberstellung der beiden Weltsichten findet sich hier).

"Darüber hinaus", so Wolfgang Sachs, Wissenschaftler am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie (www.wupperinst.org), "wurde mit der Verknüpfung von 'nachhaltig' und 'Entwicklung' ein Terrain sprachlicher Ambivalenz geschaffen. Das neue Konzept verschob auf subtile Weise den geometrischen Ort der Nachhaltigkeit von der Natur auf Entwicklung; während sich zuvor 'nachhaltig' auf erneuerbare Ressourcen bezogen hatte, bezieht es sich jetzt auf Entwicklung. Mit dieser Verschiebung änderte sich die Wahrnehmung; die Bedeutung von Nachhaltigkeit verlagerte sich von Naturschutz auf Entwicklungsschutz. Angesichts der Tatsache, dass Entwicklung konzeptionell zu einer leeren Hülse geworden war, war das, was nachhaltig bleiben sollte, unklar und strittig. Daher sind in den folgenden Jahren alle Arten von politischen Akteuren, selbst glühende Verfechter des Wirtschaftswachstums in der Lage gewesen, ihre Absichten in den Begriff 'nachhaltige Entwicklung' zu kleiden. Der Begriff wurde somit bald selbst-referentiell, wie eine von der Weltbank angebotene Definition treffend bestätigt: 'Was ist nachhaltig? Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die anhält.'"
[aus: Wolfgang Sachs, Nach uns die Zukunft. Der globale Konflikt um Gerechtigkeit und Ökologie, Frankfurt/Main 2002, S. 65]

Will man trotz dieser Kritik auf die etablierte Kombination "nachhaltige Entwicklung" nicht verzichten, kann man nicht umhin, den Entwicklungsbegriff näher zu bestimmen und vom überholten Entwicklungsbegriff der Modernisierungstheorie abzugrenzen. Anregungen hierzu gibt das folgende Schaubild:



Postwachstumsökonomie

In der APuZ-Ausgabe 19-20/2017 zu Karl Marx und "Das Kapital" findet sich ein lesenswerter Beitrag von Niko Paech zur Postwachstumsökonomik, die er auf Seite 44 so definiert:
"Die Postwachstumsökonomik kann als ökologisch orientierte Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften bezeichnet werden. Als Lehr- und Forschungsprogramm richtet sie den Blick auf drei basale Fragestellungen. Erstens: Welche Begründungszusammenhänge lassen erkennen, dass ein weiteres Wachstum des Bruttoinlandsproduktes keine Option für die Gestaltung moderner Industriegesellschaften sein kann? Zweitens: Was sind die Ursachen dafür, dass moderne, auf industrieller Fremdversorgung basierende Volkswirtschaften einem Wachstumszwang unterliegen? Drittens: Was sind die Merkmale einer Ökonomie, deren industrieller Output mit der Einhaltung ökologischer Grenzen harmoniert und insbesondere nicht mehr wächst (Postwachstumsökonomie)?"
Diese reduktive Ökonomie ist das Resultat einer fünffachen Selbstbegrenzung (S. 45-46), die sich mit den folgenden Begriffen verbindet:
  • Suffizienz
  • Subsistenz
  • Regionalökonomie
  • Umbau der restlichen Industrie
  • Institutionelle Maßnahmen
Deutschlandfunk Nova hat in der Reihe "Hörsaal" einen Vortrag von Niko Paech vom September 2019 als Podcast veröffentlicht, der vieles von dem aufgreift, um was es in unserem Seminar zu Nachhaltigkeit und Postwachstum geht. Titel des Vortrags ist "Nachhaltigkeit, Wachstum und globale Gerechtigkeit". Anhören lohnt sich...

Gemeinwohl-Ökonomie

Zu den Grundinformationen zur Gemeinwohl-Ökonomie hatten wir folgende Materialien genutzt:

Zusammengenommen erhält man damit einen sehr guten Einblick, worum es der Gemeinwohl-Ökonomie geht und wo sie die wichtigsten Stellschrauben verortet. Wie das ganz konkret aussehen kann, beschreibt ein Artikel auf Krautreporter:

  • Janina Martens: Gemeinwohlökonomie: Auf dieser Baustelle könnte die Wirtschaft der Zukunft entstehen, Krautreporter 19.01.2021 (Link)

Es wäre schön, wenn der eine oder die andere von Ihnen zu diesem hochinteressanten und erfolgreichen Ansatz noch etwas im Blog ergänzen würde... 


Freitag, 10. Juli 2020

Lösungsansätze: Nachhaltigkeit, Postwachstum und Gemeinwohl-Ökonomie

Bislang haben wir uns drei Lösungsansätze für die grundlegenden Probleme unserer Gesellschaften angeschaut, die auf vielfältige Weise zusammenhängen und Überschneidungen aufweisen:
  • Das Konzept der Nachhaltigkeit bzw. der nachhaltigen Entwicklung,
  • die Postwachstumsökonomie bzw. -gesellschaft und
  • die Gemeinwohl-Ökonomie.
In diesem Text versuche ich eine kleine Zwischenbilanz zu den drei Konzepten:

Nachhaltigkeit / nachhaltige Entwicklung

Die am häufigsten gebrauchte Definition von "nachhaltiger Entwicklung" stammt von Lester Brown, dem Gründer des Worldwatch Institute. Sie wurde in dem Bericht "Our Common Future" der Brundtland-Kommission aufgegriffen:
"Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs."
[World Commission on Environment and Development (WCED), Our Common Future, Oxford 1987, p. 43]
Diese Definition von "nachhaltiger Entwicklung" wird zwar allgemein akzeptiert, aber sie sagt nicht viel aus. Fritjof Capra schlägt deshalb folgende Operationalisierung vor:
"Der Schlüssel zu einer funktionsfähigen Definition von ökologischer Nachhaltigkeit ist die Einsicht, dass wir nachhaltige menschliche Gemeinschaften nicht von Grund auf erfinden müssen, sondern sie nach dem Vorbild der Ökosysteme der Natur nachbilden können, die ja nachhaltige Gemeinschaften von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen sind. Wie wir gesehen haben, ist die herausragendste Eigenschaft des Erdhaushalts seine immanente Fähigkeit, Leben zu erhalten. Daher ist eine nachhaltige menschliche Gemeinschaft so beschaffen, dass ihre Lebensweisen ebenso wie ihre unternehmerischen, wirtschaftlichen und physikalischen Strukturen und Technologien die immanente Fähigkeit der Natur, Leben zu erhalten, nicht stören. Nachhaltige Gemeinschaften entwickeln ihre Lebensmuster im Laufe der Zeit in ständiger Interaktion mit anderen menschlichen und nichtmenschlichen lebenden Systemen. Nachhaltigkeit bedeutet somit nicht, dass die Dinge sich nicht verändern. Sie ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess der Koevolution."
[aus: Fritjof Capra, Verborgene Zusammenhänge. Vernetzt denken und handeln - in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, Bern u.a. 2002, S. 298]
"Nachhaltige Entwicklung" als Widerspruch in sich

Ursprünglich war Nachhaltigkeit das neue Leitbild, das Ziel, die regulative Idee. Unmerklich hat sich die Terminologie (und nicht nur sie) verschoben. Wenn nicht gleich von green economy die Rede ist, dann spricht man von "nachhaltiger Entwicklung".

"Nachhaltigkeit ja - nachhaltige Entwicklung nein", so lautet die Kritik an der mittlerweile allgegenwärtigen Kombination der beiden Konzepte Nachhaltigkeit und Entwicklung. Grund für die Ablehnung der Kombination sind Vorbehalte gegenüber dem Konzept "Entwicklung". Es mit Nachhaltigkeit kombinieren zu wollen, bedeute einen Widerspruch in sich. Während Nachhaltigkeit zur neuen ökologischen Weltsicht gehöre, entstamme der Entwicklungsbegriff der überholten mechanistischen Weltsicht (eine Gegenüberstellung der beiden Weltsichten findet sich hier).

"Darüber hinaus", so Wolfgang Sachs, Wissenschaftler am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie (www.wupperinst.org), "wurde mit der Verknüpfung von 'nachhaltig' und 'Entwicklung' ein Terrain sprachlicher Ambivalenz geschaffen. Das neue Konzept verschob auf subtile Weise den geometrischen Ort der Nachhaltigkeit von der Natur auf Entwicklung; während sich zuvor 'nachhaltig' auf erneuerbare Ressourcen bezogen hatte, bezieht es sich jetzt auf Entwicklung. Mit dieser Verschiebung änderte sich die Wahrnehmung; die Bedeutung von Nachhaltigkeit verlagerte sich von Naturschutz auf Entwicklungsschutz. Angesichts der Tatsache, dass Entwicklung konzeptionell zu einer leeren Hülse geworden war, war das, was nachhaltig bleiben sollte, unklar und strittig. Daher sind in den folgenden Jahren alle Arten von politischen Akteuren, selbst glühende Verfechter des Wirtschaftswachstums in der Lage gewesen, ihre Absichten in den Begriff 'nachhaltige Entwicklung' zu kleiden. Der Begriff wurde somit bald selbst-referentiell, wie eine von der Weltbank angebotene Definition treffend bestätigt: 'Was ist nachhaltig? Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die anhält.'"
[aus: Wolfgang Sachs, Nach uns die Zukunft. Der globale Konflikt um Gerechtigkeit und Ökologie, Frankfurt/Main 2002, S. 65]

Will man trotz dieser Kritik auf die etablierte Kombination "nachhaltige Entwicklung" nicht verzichten, kann man nicht umhin, den Entwicklungsbegriff näher zu bestimmen und vom überholten Entwicklungsbegriff der Modernisierungstheorie abzugrenzen. Anregungen hierzu gibt das folgende Schaubild:



Postwachstumsökonomie

In der APuZ-Ausgabe 19-20/2017 zu Karl Marx und "Das Kapital" findet sich ein lesenswerter Beitrag von Niko Paech zur Postwachstumsökonomik, die er auf Seite 44 so definiert:
"Die Postwachstumsökonomik kann als ökologisch orientierte Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften bezeichnet werden. Als Lehr- und Forschungsprogramm richtet sie den Blick auf drei basale Fragestellungen. Erstens: Welche Begründungszusammenhänge lassen erkennen, dass ein weiteres Wachstum des Bruttoinlandsproduktes keine Option für die Gestaltung moderner Industriegesellschaften sein kann? Zweitens: Was sind die Ursachen dafür, dass moderne, auf industrieller Fremdversorgung basierende Volkswirtschaften einem Wachstumszwang unterliegen? Drittens: Was sind die Merkmale einer Ökonomie, deren industrieller Output mit der Einhaltung ökologischer Grenzen harmoniert und insbesondere nicht mehr wächst (Postwachstumsökonomie)?"
Diese reduktive Ökonomie ist das Resultat einer fünffachen Selbstbegrenzung (S. 45-46), die sich mit den folgenden Begriffen verbindet:
  • Suffizienz
  • Subsistenz
  • Regionalökonomie
  • Umbau der restlichen Industrie
  • Institutionelle Maßnahmen
Deutschlandfunk Nova hat in der Reihe "Hörsaal" einen Vortrag von Niko Paech vom September 2019 als Podcast veröffentlicht, der vieles von dem aufgreift, um was es in unserem Seminar zu Nachhaltigkeit und Postwachstum geht. Titel des Vortrags ist "Nachhaltigkeit, Wachstum und globale Gerechtigkeit". Anhören lohnt sich...

Gemeinwohl-Ökonomie

Zu den Grundinformationen zur Gemeinwohl-Ökonomie hatten wir folgende Materialien genutzt:
Zusammengenommen erhält man damit einen sehr guten Einblick, worum es der Gemeinwohl-Ökonomie geht und wo sie die wichtigsten Stellschrauben verortet. Es wäre schön, wenn der eine oder die andere von Ihnen zu diesem hochinteressanten und erfolgreichen Ansatz noch etwas im Blog ergänzen würde...

Sonntag, 5. April 2020

Gespräch mit der Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel

Bei SWR1 Leute war am 1. April 2020 Maja Göpel zu Gast. Sie ist Mitbegründerin von Scientists for Future, einer Initiative zur Unterstützung von Fridays for Future, Politökonomin und Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen sowie Honorarprofessorin an der Leuphana Universität in Lüneburg. In ihrem neuen Buch “Unsere Welt neu denken“ hinterfragt sie traditionelle ökonomische Annahmen, auf deren Grundlage bis heute Wirtschaft verstanden und betrieben wird. Zugang zum Podcast mit dem rund 30-minütigen Gespräch gibt es ausgehend von dieser Seite: https://www.swr.de/swr1/bw/swr1leute/maja-goepel-swr1-leute-100.html...

Montag, 7. Januar 2019

Buen Vivir - das gute Leben jenseits der Entwicklungsideologie

Ein Beitrag von Marius Kölly über folgenden Aufsatz:

Alberto Acosta: Vom guten Leben. Der Ausweg aus der Entwicklungsideologie; in: Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.) (2015), Mehr geht nicht! Der Postwachstums-Reader, Blätter, S. 191-197.

Der Autor beschäftigt sich zunächst mit dem Begriff der ‚Entwicklung‘ oder auch dem ‚Fortschritt‘ und prangert das Versprechen der Industrieländer (u.a. Truman) auf die „Entwicklung“ und deren Umsetzung an. Genauer gesagt, das Vorgehen der Industrieländer in den peripheren Regionen, z.B. durch Interventionen von IWF und Weltbank auf ökonomischer Ebene, aber auch durch militärische Aktionen. Diese Interventionen werden von den westlichen Industrieländern dadurch legitimiert, dass die „Durchsetzung der Demokratie“ als Voraussetzung für die Entwicklung unabdingbar ist.

Als der Glaube an Entwicklung dann aber zu bröckeln begann, hat man nach alternativen Entwicklungspfaden gesucht, ohne aber den Pfad der Entwicklung komplett zu verlassen, was der Autor sehr kritisch sieht, d.h. der Begriff der Entwicklung wurde mit Zweitnamen versehen: soziale Entwicklung, lokale Entwicklung, ländliche Entwicklung, nachhaltige Entwicklung, endogene Entwicklung, geschlechtergerechte Entwicklung. 

Vom Neoliberalismus zum Extraktivismus

Der Autor fährt mit seiner Kritik an der Entwicklungsideologie weiter fort. In den 80er und 90er Jahren kam es zu – vom Neoliberalismus inspirierten – Reformen, welche allerdings die soziale Ungleichheit und die Umweltprobleme weiter wachsen ließen. Solange, bis die sozialen Konflikte, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung und der immer weiter zunehmende Marktradikalismus immer deutlicher wurden.

Dies führte in einigen Ländern Südamerikas zu einem politischen Wandel nach links und zur Ablehnung des Neoliberalismus. Folglich kam es zu neuen Entwicklungsstrategien, die die Ausbeutung der Rohstoffe und des Agrarlands für den Export verfolgten. Genannt „Extraktivismus des 21. Jahrhunderts.“ Mit diesem Wandel bleiben Probleme allerdings nicht aus. Der nun auf Konsum ausgerichtete und räuberische Lebensstil bedroht das globale ökologische Gleichgewicht und schließt immer mehr Menschen von den vermeintlichen Vorteilen der Entwicklung aus.

Auch hier findet der Autor weitere Ansätze zur Kritik. Laut Acosta akzeptieren die lateinamerikanischen Staaten soziale und ökologische Verwüstungen (z.B. im Bereich des industriellen Bergbaus), um den fortgeschrittenen, modernen Ländern nachzueifern. Man schaut zu, wie alles kommerzialisiert wird, während gleichzeitig die eigenen historischen und kulturellen Wurzeln verleugnet werden. Acosta plädiert dafür, dass die natürlichen Ressourcen nicht länger als Basis für wirtschaftliches Wachstum herhalten müssen.

Alternativen zur Entwicklungsideologie – das Konzept ‚Buen Vivir‘

Zunächst stellt sich die Frage, ob eine Lebensweise innerhalb des Kapitalismus überhaupt möglich ist, die von den politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Menschenrechten sowie den Rechten der Natur angetrieben wird?

In diesem Zusammenhang stellt Acosta das Konzept Buen Vivir als Alternative zur Entwicklung bzw. als Grundlage für einen Diskurs über Alternativen zur Entwicklung vor. Buen Vivir entstand im Kontext indigenen Widerstands gegen den Kolonialismus und wird heute noch in einigen indigenen Gemeinden praktiziert. Als bekannteste Umsetzung des Konzepts gilt die Verfassung Ecuadors und Boliviens, denn hier ist Buen Vivir festgeschrieben.

Buen Vivir stellt das Konzept des Fortschritts und die auf hauptsächlich wirtschaftlichem Wachstum basierende Entwicklung in Frage. Beispielsweise gibt es in einigen indigenen Gemeinschaften gar keinen Begriff für ‚Entwicklung‘. Das Leben ist nach dieser Philosophie kein linearer Prozess mit einem Vorher und Nachher. Es gibt weder unterentwickelte noch entwickelte Phasen, welche die Menschen auf der Suche nach Wohlstand durchlaufen. Es gibt keine Konzepte von Armut und Reichtum.

Denn: Buen Vivir basiert auf der Ethik des „Ausreichenden“ – für die ganze Gemeinschaft und nicht nur für das Individuum. Des Weiteren schlägt das Konzept einen zivilisatorischen Wandel vor, heißt: Man muss den Kapitalismus überwinden, um neue Formen des Wirtschaftens zu erschaffen. Allen voran eine Wirtschaft, die im Einklang mit der Natur steht und die Bedürfnisse der Menschen und nicht die des Kapitals bedient.

Wie bereits angeklungen, spielt die Natur beim Buen Vivir eine zentrale Rolle. Hier gilt es zu verstehen, dass die Menschen ein integraler Bestandteil der Natur sind. Der Mensch muss also aufhören, die Natur zu beherrschen versuchen, denn sie ist keine unerschöpfliche Quelle.

Deshalb setzt sich das Konzept auch zur Aufgabe, die Natur und die Menschen einander anzunähern mit dem Ziel, die Natur zu entkommerzialisieren. Das bedeutet, die ökonomischen Ziele müssen der Funktionsweise der Ökosysteme untergeordnet werden. Also gilt es, die natürlichen Ressourcen nur insoweit zu nutzen, wie die Natur sie regenerieren kann. Hierzu fordert Acosta die Politik auf, die Natur als Rechtssubjekt anzuerkennen, denn die Natur ist nicht bloßes Objekt des Eigentums.

Kurz darauf relativiert der Autor sein ‚Angebot‘ an die Politik mit dem Hinweis, es sei eine „komplexe Aufgabe“. Denn allein die Idee zu akzeptieren, braucht Zeit, sie auszuarbeiten, noch viel mehr. Selbst in Bolivien und in Ecuador, wo das Buen Vivir Teil der Verfassung ist, wird es immer schwieriger umzusetzen, da mittlerweile beide Regierungen neoextraktivistische Politik betreiben und sich der kapitalistischen Akkumulation verschrieben haben.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass Buen Vivir kein fertig ausgearbeiteter Vorschlag ist, noch kann es globales Programm sein. Vielmehr bietet es eine Möglichkeit oder eine Grundlage, um kollektiv neue Lebensformen zu entwicklen. Es kann möglicherweise als Diskussionsplattform zur Entwicklung von Antworten auf beispielsweise die Effekte des Klimawandels und/oder die wachsenden sozialen Verwerfungen herangezogen werden.

Montag, 26. November 2018

Das bedingungslose Grundeinkommen – Raus aus der Leistungsgesellschaft?!

Im Rahmen einer Hausarbeit habe ich mich bereits ausführlicher mit der "Utopie" des bedingungslosen Grundeinkommens (kurz: BGE) nach Götz Werner auseinandergesetzt (hier der ausführliche Eintrag). Hier sollen nun die zentralen Aspekte dieser Ausarbeitung zusammengeführt und Überlegungen, inwiefern das BGE einen Lösungsvorschlag gegen den permanenten Druck der Wachstumsgesellschaft bieten könnte, geteilt werden. Um eines direkt vorwegzunehmen: die Entscheidung, ob sich jemand für oder gegen ein BGE entscheidet, steht und fällt mit dem Gesellschafts- und Menschenbild des Einzelnen.

Was ist das BGE?

Die Grundidee des bedingungslosen Grundeinkommens ist auf den ersten Blick recht simpel: die Gesamtzahl der Bürgerinnen und Bürger erhalten bedingungslos ein Existenzminimum zugesichert; dies geschieht anstelle von Sachleistungen in Form von Geld. Dabei liegt eine spezielle Betonung auf dem Wort „bedingungslos“. So spielt es beispielsweise keinerlei Rolle, welches Vermögen bei einer Person bereits angespart worden ist. Ein wichtiger Punkt des Konzepts besteht darin, dass das Grundeinkommen zu einem Teil des Lohnbestandes gezählt wird. Genauer bedeutet dies: Ein Grundeinkommen bedeutet nicht mehr Geld. Der Teil des Einkommens, welcher die Grundexistenz sichert, wird von der Gemeinschaft an jeden Einzelnen gestellt, alle darüber hinausgehenden Leistungen werden von Arbeitgebern entlohnt. Dabei ist die Höhe des Grundeinkommens nicht endgültig geklärt; fest steht dabei nur, dass ein Existenzminimum beziehungsweise ein Kulturminimum immer abgedeckt sein muss.

Argumente gegen ein BGE
  • Gleich ist nicht gerecht.
  • Finanzierung: Es existieren bereits verschiedene Vorschläge, wie sich ein BGE finanzieren lassen könnte. Die meisten sind allerdings noch nicht zufriedenstellend oder unausgereift.
  • Die wohl größte Schwierigkeit, die mit der Einführung eines BGE auftreten kann, ist die Unberechenbarkeit und die damit stets verbundene Angst vor dem Scheitern eines BGE.
  • Ein solcher Systemwechsel wäre kaum mehr reversibel und dadurch mit einem hohen Risiko verbunden.
Argumente für ein BGE
  • Verlust von Erwerbsarbeit durch Digitalisierung (es ist ohnehin nicht mehr genug Arbeit da).
  • Durch ein BGE kann das Problem der Care-Arbeit gelöst werden (Lohnsubventionierung, durch neue Freiheit kann man sich diese Arbeit wieder"leisten").
  • Alters- und Kinderarmut wären Probleme der Vergangenheit, denn jedem ist ein Leben mit einem Existenzminimum (oder Kulturminimum) zugesichert und somit wäre Alters- und Kinderarmut kaum mehr möglich.
  • Darüber hinaus wären die sozialen Demütigungen und das Leben in Armut für Menschen, welche mit dem Arbeitslosengeld II Ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, ebenfalls Teil der Vergangenheit (Hier noch aktuelle Entwicklungen zum Thema Hartz IV).
  • Erhöhte Innovationsfähigkeit, Freiheit und Selbstverwirklichung.
  • Gesellschaft, in welcher niemand mehr gezwungen wird, einen Arbeitsplatz zu suchen, nur um menschenwürdig leben zu können. Das gesellschaftliche Klima wandelt sich vom „sollen“ zum „wollen“.
  • Attraktivität von unliebsamer Arbeit muss gesteigert werden.
  • Menschen sind nicht zur Arbeit und ständiger Weiterentwicklung gezwungen; damit endet auch der Druck, sich immer höher, schneller und besser als der Rest der Gesellschaft bewegen zu müssen (raus aus der Leistungsgesellschaft, oder auch strukturelle Veränderung nach Hartmut Rosa). 
Fazit: Das wohl größte Argument gegen die Einführung eines BGE (die Unberechenbarkeit bzw. die Angst vor dem Scheitern) muss einer Gegenfrage standhalten: Ist es besser, an einem System festzuhalten, welches bereits jetzt von starken gesellschaftlichen und politischen Problemen geprägt ist? Oder ist es das Risiko wert, auf begründete positive Entwicklungen zu hoffen, um dadurch Lösungen für gesellschaftliche und politische Probleme zu erhalten?

Freitag, 29. September 2017

Aus Gebern und Nehmern werden Partner - nachhaltige Entwicklungspolitik in Afrika?

Das Jahr 2017 ist nicht nur das Jahr der Reformation – welche sich zum 500sten Mal jährt – sondern auch das Afrikajahr Deutschlands und der EU. Das Afrikajahr 2017 soll dazu dienen, alte Konzepte zu reformieren, zwar nicht im Sinne von Martin Luther, jedoch im Sinne eines neuen Partnerschaftsvertrages.

Die neue Partnerschaft soll den Cotonou-Vertrag ablösen und eine neue Grundlage der Zusammenarbeit schaffen. Die Schwerpunkte dieses "Marshall-Plans" liegen auf den Gebieten „fairer Handel“, „mehr private Investoren“, „mehr wirtschaftliche Entwicklung“, und „unternehmerische Entfaltung“, außerdem soll dieser Plan zu mehr Jobs und mehr Beschäftigung führen. Der zentrale Begriff des Planes ist Zusammenarbeit, innerhalb welcher die EU und ihre Mitgliedstaaten als „gleichberechtigte Partner zur Verfügung“ stehen sollen.
„Ziel ist ein prosperierendes Afrika, dessen Entwicklung alle einbeziehen und von den Potenzialen der eigenen Bevölkerung vorangetrieben wird.“
Weiter heißt es, man wolle afrikanische Lösungen für afrikanische Herausforderungen (vgl. BMZ 2017, S. 5). Diese „neue Dimension der Zusammenarbeit“ scheint reformatorisch zu sein. Doch stellt man sich in diesem Zusammenhang die Frage: Wie kann nachhaltige Afrikapolitik aussehen und wie soll diese gestaltet werden?

Mittwoch, 2. August 2017

Nachhaltigkeit unter Präsident Trump

Donald Trump ist eine Katastrophe für den Klimaschutz, der Austritt aus dem Pariser Abkommen sei eine Kriegserklärung an den gesamten Planeten. So oder so ähnlich klingen die meisten Urteile über Donald Trumps Klimapolitik (http://www.geo.de/natur/nachhaltigkeit/15149-rtkl-klimapolitik-was-trump-fuer-den-klimaschutz-bedeutet [26.7.17]). Doch was waren seine Ankündigungen? Was hat er bereits durchgesetzt und was könnte noch folgen? In einer Zeit, in der sich die meisten Industriestaaten dem Klimaschutz verschreiben, ist Trump der eine, der dagegen ist.

In dieser Arbeit soll untersucht werden, was Trump für die Nachhaltigkeit der USA bedeutet. In zahlreichen Karikaturen sieht man Trump dargestellt als Gegner des Klimaschutzes. Bereits 2012 twitterte er, dass das Konzept des Klimawandels von und für die Chinesen propagiert wurde, um den amerikanischen Markt zu schwächen (https://twitter.com/realDonaldTrump/status/265895292191248385 [26.7.17]).

Der Einfluss, den Trump auf die Geisteshaltungen vieler Menschen hat, beschränkt sich beim Klimawandel nicht auf die Zeit seiner Kandidatur, sondern geht weiter zurück. Durch seine fast 35 Millionen Follower auf Twitter schafft er eine partizipative Kultur (Weitbrecht 2015, S. 107), in der er mit seinen Ansichten viele Menschen erreicht und Meinungen bildet.

Seit er verschiedenen Nachrichtensendern die Glaubwürdigkeit abspricht, erhebt er sich und einige wenige Sender in die Stellung der alleinigen Deutungshoheit von Informationen. Laut Weitbrecht hält derjenige mit der Deutungshoheit auch die Macht in einer Gesellschaft. So ist es nicht verwunderlich, wenn viele Menschen seinen Ansichten zum Klimawandel glauben und seine Taten nicht kritisieren.

Zu Beginn der Arbeit soll der Begriff Nachhaltigkeit kurz geklärt werden. Daraufhin werden Trumps Aktionen vor seiner Kampagne beleuchtet, um zuletzt die Zeit von der Kandidatur bis heute zu betrachten.

Dienstag, 27. Juni 2017

Analyse der Externalisierungsgesellschaft

"Neben uns die Sintflut" ist der eindrückliche Titel (Untertitel: "Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis"), den der Soziologe Stephan Lessenich seiner treffenden Diagnose unserer Gesellschaft gegeben hat. Das Buch ist 2016 im Carl Hanser Verlag erschienen, zwischenzeitlich auch als Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe Band 10010) erhältlich und unbedingt lesenswert.

Zentrale Aussage ist, dass es uns gut geht, weil es anderen schlecht geht. Glück und Unglück müssen in Tateinheit betrachtet werden. So schreibt der Autor hinsichtlich der Ziele, die er mit dem Buch verfolgt:
"Ebendiese Doppelgeschichte soll hier in den Blick genommen werden. Es geht um den Einblick in Zusammenhänge, die Einsicht in Abhängigkeiten, in globale Beziehungsstrukturen und Wechselwirkungen. Es geht um die andere Seite der westlichen Moderne, um ihr 'dunkles Gesicht', um ihre Verankerung in den Strukturen und Mechanismen kolonialer Herrschaft über den Rest der Welt. Es geht um Reichtumsproduktion auf Kosten und um Wohlstandsgenuss zu Lasten anderer, um die Auslagerung der Kosten und Lasten des 'Fortschritts'. Und es geht noch um eine weitere, dritte Geschichte: um die Abwehr des Wissens um ebendiese Doppelgeschichte, um deren Verdrängung aus unserem Bewusstsein, um ihre Tilgung aus den gesellschaftlichen Erzählungen individuellen und kollektiven 'Erfolgs'. Wer von unserem Wohlstand hierzulande redet, dürfte von den damit verbundenen, verwobenen, ja ursächlich zusammenhängenden Nöten anderer Menschen andernorts nicht schweigen. Genau das aber ist es, was ununterbrochen geschieht." (S. 17)
Im weiteren Verlauf des Textes wird Lessenich noch deutlicher, wenn er schreibt: "Gegen ebenjenes Vergessen aber richtet sich dieses Buch" (S. 24). Es geht darum, die Mechanismen und Strukturen darzustellen, die zu der perversen "internationalen Arbeitsteilung" geführt haben, die sich so beschreiben lässt:
"Wir haben uns aufs Gewinnen spezialisiert - und die anderen aufs Verlieren festgelegt." (S. 25)
Die Anzeichen mehren sich, dass Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Weltmaßstab immer mehr Menschen Unbehagen bereitet.
"Diesem einstweilen noch unterschwelligen, aber - so die Vermutung - zunehmend um sich greifenden Unbehagen an der Externalisierungsgesellschaft und ihrem Preis will das vorliegende Buch Ausdruck und Auftrieb geben." (S. 29)
Es geht Lessenich also um "eine Gegenwartssoziologie der Externalisierungsgesellschaft" (S. 50), wobei er diesen zentralen Begriff entlang der drei zentralen Kategorien von Macht, Ausbeutung und Habitus folgendermaßen definiert:
"In der Externalisierungsgesellschaft besteht Macht in der Chance, die Kosten der eigenen Lebensführung auf andere abzuwälzen - und diese Chance ist strukturell ungleich verteilt. Sie ist dies, weil es bestimmten sozialen Kollektiven gelungen ist, sich Möglichkeiten zur Externalisierung anzueignen und sie zugleich anderen vorzuenthalten. Diese anderen werden von den machtvollen Positionen aus ausgebeutet, insofern sie vorrangig die Kosten der Externalisierung zu tragen haben, von den Profiten derselben aber dauerhaft ausgeschlossen bleiben. Sozial wirksam und gesellschaftlich stabilisiert werden Machtungleichgewicht und Ausbeutungsdynamik in der Externalisierungsgesellschaft durch einen spezifischen Habitus derjenigen, die aus machtvollen Positionen heraus ausbeuterisch handeln: Externalisierung wird für sie zu einer sozialen Praxis, die sie als möglich, üblich und legitim wahrnehmen und daher wie selbstverständlich vollziehen." (S. 62f., eigene Hervorhebung)
Auf den Seiten 179/180 bilanziert der Autor seine Analyse. In zwei Anläufen habe er zu ergründen versucht, wie es sich mit Wohlstand und "Übelstand" verhält:
"Zunächst wurde gezeigt, wie die gesamte (...) Lebensführung in den reichen Gesellschaften des globalen Nordens auf einem schon seit langem praktizierten, großangelegten System ungleichen Tauschs beruht: In weiter Ferne, an den vielen Peripherien der kapitalistischen Weltökonomie, werden Arbeiten erbracht, Ressourcen gefördert, Giftstoffe freigesetzt, Abfälle gelagert, Landstriche verwüstet, Sozialräume zerstört, Menschen getötet - für uns, für die Menschen in den Zentren des Wohlstands, für die Ermöglichung und Aufrechterhaltung ihres Lebensstandards, ihrer Lebenschancen, ihres Lebensstils." (S. 179f.)
Der zweite Schritt besteht darin, das Mobilitätsregime dieser globalen Formation in den Blick zu nehmen. Hier kommt Lessenich zu folgender Einschätzung:
"Sodann wurde in einem zweiten Schritt nachgezeichnet, wie sich diese Zentren des Wohlstands von der sie nährenden und entlastenden Außenwelt abschließen, oder genauer: wie sie 'fremde' Lebenswelten als ein 'Außen' konstruieren, auf das sie zur Sicherung ihrer Lebensweise zugreifen können, ohne selbst jedoch von diesem in ihrer Integrität berührt zu werden. Die Beziehungen zwischen Zentren und Peripherien sind nach dem Prinzip der Halbdurchlässigkeit gestaltet: Während nach 'außen' viel geht, soll nur wenig nach 'innen' gelangen. Die globale Mobilitätskluft zugunsten des globalen Nordens ist dafür ein treffendes Beispiel: Die eine Hälfte der Welt bereist kollektiv die andere, eröffnet dieser aber nur einen höchst selektiven Zugang zu ihrem eigenen Wirtschafts- und Sozialraum. Wie die Lebens- sind auch die Bewegungschancen offensichtlich global teilbar - und effektiv geteilt. Was den einen möglich ist, bleibt den anderen verwehrt: Das nennt sich dann das Zeitalter der 'Globalisierung'." (S. 180)
In dieser Analyse bestand das Hauptanliegen des Buches. Hinzu kam das Ziel, mit "der Schweigespirale des Wohlstandskapitalismus" (S. 192) zu brechen. Was mögliche Reaktionen auf die dargestellte schreiende Ungerechtigkeit betrifft, beschränkt sich Lessenich auf einige Andeutungen zur "radikalen institutionellen Reform der Externalisierungsgesellschaft" (S. 195):
"...von einer mit den Privilegien der Zentrumsökonomien brechenden Revision des Welthandelsregimes, einer effektiven Besteuerung weltweiter Finanztransaktionen und einem Umbau der reichen Volkswirtschaften in Postwachstumsökonomien bis hin zu einem Sozialvertrag zur Verzögerung des Klimawandels (...) und einer transnationalen Rechtspolitik, die globale soziale Rechte wirkungsvoll verankert. Auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, liefe eine solche Reform auf eine konsequente Politik der doppelten Umverteilung hinaus: im nationalgesellschaftlichen wie im weltgesellschaftlichen Maßstab, von oben nach unten und von 'innen' nach 'außen'." (S. 195)

Dienstag, 6. Juni 2017

Lessenich: Analyse der Externalisierungsgesellschaft

"Neben uns die Sintflut" ist der eindrückliche Titel (Untertitel: "Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis"), den der Soziologe Stephan Lessenich seiner treffenden Diagnose unserer Gesellschaft gegeben hat. Das Buch ist 2016 im Carl Hanser Verlag erschienen, zwischenzeitlich auch als Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe Band 10010) erhältlich und unbedingt lesenswert.

Zentrale Aussage ist, dass es uns gut geht, weil es anderen schlecht geht. Glück und Unglück müssen in Tateinheit betrachtet werden. So schreibt der Autor hinsichtlich der Ziele, die er mit dem Buch verfolgt:
"Ebendiese Doppelgeschichte soll hier in den Blick genommen werden. Es geht um den Einblick in Zusammenhänge, die Einsicht in Abhängigkeiten, in globale Beziehungsstrukturen und Wechselwirkungen. Es geht um die andere Seite der westlichen Moderne, um ihr 'dunkles Gesicht', um ihre Verankerung in den Strukturen und Mechanismen kolonialer Herrschaft über den Rest der Welt. Es geht um Reichtumsproduktion auf Kosten und um Wohlstandsgenuss zu Lasten anderer, um die Auslagerung der Kosten und Lasten des 'Fortschritts'. Und es geht noch um eine weitere, dritte Geschichte: um die Abwehr des Wissens um ebendiese Doppelgeschichte, um deren Verdrängung aus unserem Bewusstsein, um ihre Tilgung aus den gesellschaftlichen Erzählungen individuellen und kollektiven 'Erfolgs'. Wer von unserem Wohlstand hierzulande redet, dürfte von den damit verbundenen, verwobenen, ja ursächlich zusammenhängenden Nöten anderer Menschen andernorts nicht schweigen. Genau das aber ist es, was ununterbrochen geschieht." (S. 17)
Im weiteren Verlauf des Textes wird Lessenich noch deutlicher, wenn er schreibt: "Gegen ebenjenes Vergessen aber richtet sich dieses Buch" (S. 24). Es geht darum, die Mechanismen und Strukturen darzustellen, die zu der perversen "internationalen Arbeitsteilung" geführt haben, die sich so beschreiben lässt:
"Wir haben uns aufs Gewinnen spezialisiert - und die anderen aufs Verlieren festgelegt." (S. 25)
Die Anzeichen mehren sich, dass Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Weltmaßstab immer mehr Menschen Unbehagen bereitet.
"Diesem einstweilen noch unterschwelligen, aber - so die Vermutung - zunehmend um sich greifenden Unbehagen an der Externalisierungsgesellschaft und ihrem Preis will das vorliegende Buch Ausdruck und Auftrieb geben." (S. 29)
Es geht Lessenich also um "eine Gegenwartssoziologie der Externalisierungsgesellschaft" (S. 50), wobei er diesen zentralen Begriff entlang der drei zentralen Kategorien von Macht, Ausbeutung und Habitus folgendermaßen definiert:
"In der Externalisierungsgesellschaft besteht Macht in der Chance, die Kosten der eigenen Lebensführung auf andere abzuwälzen - und diese Chance ist strukturell ungleich verteilt. Sie ist dies, weil es bestimmten sozialen Kollektiven gelungen ist, sich Möglichkeiten zur Externalisierung anzueignen und sie zugleich anderen vorzuenthalten. Diese anderen werden von den machtvollen Positionen aus ausgebeutet, insofern sie vorrangig die Kosten der Externalisierung zu tragen haben, von den Profiten derselben aber dauerhaft ausgeschlossen bleiben. Sozial wirksam und gesellschaftlich stabilisiert werden Machtungleichgewicht und Ausbeutungsdynamik in der Externalisierungsgesellschaft durch einen spezifischen Habitus derjenigen, die aus machtvollen Positionen heraus ausbeuterisch handeln: Externalisierung wird für sie zu einer sozialen Praxis, die sie als möglich, üblich und legitim wahrnehmen und daher wie selbstverständlich vollziehen." (S. 62f., eigene Hervorhebung)
Auf den Seiten 179/180 bilanziert der Autor seine Analyse. In zwei Anläufen habe er zu ergründen versucht, wie es sich mit Wohlstand und "Übelstand" verhält:
"Zunächst wurde gezeigt, wie die gesamte (...) Lebensführung in den reichen Gesellschaften des globalen Nordens auf einem schon seit langem praktizierten, großangelegten System ungleichen Tauschs beruht: In weiter Ferne, an den vielen Peripherien der kapitalistischen Weltökonomie, werden Arbeiten erbracht, Ressourcen gefördert, Giftstoffe freigesetzt, Abfälle gelagert, Landstriche verwüstet, Sozialräume zerstört, Menschen getötet - für uns, für die Menschen in den Zentren des Wohlstands, für die Ermöglichung und Aufrechterhaltung ihres Lebensstandards, ihrer Lebenschancen, ihres Lebensstils." (S. 179f.)
Der zweite Schritt besteht darin, das Mobilitätsregime dieser globalen Formation in den Blick zu nehmen. Hier kommt Lessenich zu folgender Einschätzung:
"Sodann wurde in einem zweiten Schritt nachgezeichnet, wie sich diese Zentren des Wohlstands von der sie nährenden und entlastenden Außenwelt abschließen, oder genauer: wie sie 'fremde' Lebenswelten als ein 'Außen' konstruieren, auf das sie zur Sicherung ihrer Lebensweise zugreifen können, ohne selbst jedoch von diesem in ihrer Integrität berührt zu werden. Die Beziehungen zwischen Zentren und Peripherien sind nach dem Prinzip der Halbdurchlässigkeit gestaltet: Während nach 'außen' viel geht, soll nur wenig nach 'innen' gelangen. Die globale Mobilitätskluft zugunsten des globalen Nordens ist dafür ein treffendes Beispiel: Die eine Hälfte der Welt bereist kollektiv die andere, eröffnet dieser aber nur einen höchst selektiven Zugang zu ihrem eigenen Wirtschafts- und Sozialraum. Wie die Lebens- sind auch die Bewegungschancen offensichtlich global teilbar - und effektiv geteilt. Was den einen möglich ist, bleibt den anderen verwehrt: Das nennt sich dann das Zeitalter der 'Globalisierung'." (S. 180)
In dieser Analyse bestand das Hauptanliegen des Buches. Hinzu kam das Ziel, mit "der Schweigespirale des Wohlstandskapitalismus" (S. 192) zu brechen. Was mögliche Reaktionen auf die dargestellte schreiende Ungerechtigkeit betrifft, beschränkt sich Lessenich auf einige Andeutungen zur "radikalen institutionellen Reform der Externalisierungsgesellschaft" (S. 195):
"...von einer mit den Privilegien der Zentrumsökonomien brechenden Revision des Welthandelsregimes, einer effektiven Besteuerung weltweiter Finanztransaktionen und einem Umbau der reichen Volkswirtschaften in Postwachstumsökonomien bis hin zu einem Sozialvertrag zur Verzögerung des Klimawandels (...) und einer transnationalen Rechtspolitik, die globale soziale Rechte wirkungsvoll verankert. Auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, liefe eine solche Reform auf eine konsequente Politik der doppelten Umverteilung hinaus: im nationalgesellschaftlichen wie im weltgesellschaftlichen Maßstab, von oben nach unten und von 'innen' nach 'außen'." (S. 195)

Sonntag, 12. März 2017

Gut leben statt Wachstum und Entwicklung

Mit der Diskussion um décroissance bzw. Postwachstumsgesellschaft haben wir uns in diesem Blog schon mehrfach befasst. Nun hat die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) das Buch von Barbara Muraca ins Programm aufgenommen. Der schmale Band mit dem Titel "Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums" bietet einen gelungenen Überblick über das Thema und kann hier bestellt werden. Die Beschreibung auf der bpb-Website liest sich folgendermaßen:
"Volkswirtschaften sind an Wettbewerb und Wachstum ausgerichtet. Zugleich mehren sich die Anzeichen, dass zentrale globale Probleme sich ökonomischen Lösungen entziehen: Das gilt für Forderungen nach einem gerechten Umgang mit Gütern ebenso wie für Fragen des Umweltschutzes, der Nachhaltigkeit oder der Partizipation. Welche Wege führen aus der Krise, welche Konzepte versprechen ein gutes Leben für möglichst alle Menschen? Wie weit können, müssen oder wollen wir in bestehende Strukturen eingreifen? Die Philosophin Barbara Muraca verweist auf die weltweite Postwachstumsbewegung und zeigt eine Vielzahl teils utopisch anmutender Stellschrauben der Veränderung auf. Sie lassen sich mit Regionalisierung, Demokratisierung, Entschleunigung, Vergemeinschaftung, mit Nachhaltigkeit und Rückbesinnung umreißen. Das Buch wirft Fragen auf und regt zum Nachdenken an."

Donnerstag, 9. März 2017

Virtuelle Akademie Nachhaltigkeit

Die "Virtuelle Akademie Nachhaltigkeit" (www.va-bne.de) der Universität Bremen bietet 14 videobasierte Lehrveranstaltungen zu verschiedenen Themen rund um nachhaltige Entwicklung, die kostenfrei belegt und im Selbststudium bearbeitet werden können. Es handelt sich u.a. um folgende Themen:
  • Weltfinanzsystem und Nachhaltigkeit
  • Technik, Energie und Nachhaltigkeit
  • Menschliche Ernährung und ökologische Folgen
  • Weltbevölkerung und weltweite Migration
  • Sustainability Marketing
  • Bildung für nachhaltige Entwicklung
  • Civic Ecology
  • Nachhaltige Entwicklung
  • Klimaschutz und Klimaanpassung 2.0
  • Nachhaltigkeit und Unternehmensführung

Mittwoch, 8. März 2017

Social Progress Index statt BIP

Wie Wohlstand (besser) gemessen werden kann und was das für unser Konzept von "Entwicklung" bedeutet, wurde an dieser Stelle schon mehrfach thematisiert. In einem 15-minütigen TED Talk klärt Michael Green über die Herkunft des nach wie vor dominanten Indikators, des BIP, auf und stellt mit dem "Social Progress Index" einen alternativen Weg vor, um "Fortschritt" zu messen:



Im September 2015 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDG = Sustainable Development Goals) verabschiedet, die bis 2030 erreicht werden sollen (siehe www.globalgoals.org). Sie lösen die Millennium-Entwicklungsziele ab (2001-2015). Michael Green setzt die Global Goals in Beziehung zu seinem Social Progress Index:


Dienstag, 7. März 2017

Human Development Index als Alternative zum BIP

Geht es um wirtschaftliche Kennzahlen, dominiert nach wie vor das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und damit die Betonung des Wachstums, unabhängig davon, wie dieses Wachstum zustandekommt. Auch die Ausbeutung von Ressourcen (Wald, Öl etc.) oder die Aufbauarbeiten nach (Umwelt-)Katastrophen wirken sich positiv auf das BIP aus. Orientiert man sich am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, lässt sich mit einer solchen Messgröße wenig anfangen, weswegen das BIP schon immer Zielscheibe von Kritik war.

Seit über 20 Jahren steht mit dem Human Development Index eine weitere Messgröße zur Verfügung, die versucht, den Lebensstandard zu vergleichen:
The Human Development Index (HDI) is a composite statistic used to rank countries by level of "human development", taken as a synonym of the older terms (the standard of living and/or quality of life), and distinguishing "very high human development", "high human development", "medium human development", and "low human development" countries. HDI was devised and launched by Pakistani economist Mahbub ul Haq, followed by Indian economist Amartya Sen in 1990. The HDI is a comparative measure of life expectancy, literacy, education, and standards of living of a country [Wikipedia: Human Development Index].
Jährlich werden Human Development Reports erstellt, die zusammen mit anderen Statistiken auf einer speziellen UNDP-Website zur Verfügung stehen und sich zu einem Referenzdokument der internationalen Debatte entwickelt haben.

"Nachhaltige Entwicklung" als Widerspruch in sich

Ursprünglich war Nachhaltigkeit das neue Leitbild, das Ziel, die regulative Idee. Unmerklich hat sich die Terminologie (und nicht nur sie) verschoben. Wenn nicht gleich von green economy die Rede ist, dann spricht man von "nachhaltiger Entwicklung".

"Nachhaltigkeit ja - nachhaltige Entwicklung nein", so lautet die Kritik an der mittlerweile allgegenwärtigen Kombination der beiden Konzepte Nachhaltigkeit und Entwicklung. Grund für die Ablehnung der Kombination sind Vorbehalte gegenüber dem Konzept "Entwicklung". Es mit Nachhaltigkeit kombinieren zu wollen, bedeute einen Widerspruch in sich. Während Nachhaltigkeit zur neuen ökologischen Weltsicht gehöre, entstamme der Entwicklungsbegriff der überholten mechanistischen Weltsicht (eine Gegenüberstellung der beiden Weltsichten findet sich hier).

"Darüber hinaus", so Wolfgang Sachs, Wissenschaftler am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie (www.wupperinst.org), "wurde mit der Verknüpfung von 'nachhaltig' und 'Entwicklung' ein Terrain sprachlicher Ambivalenz geschaffen. Das neue Konzept verschob auf subtile Weise den geometrischen Ort der Nachhaltigkeit von der Natur auf Entwicklung; während sich zuvor 'nachhaltig' auf erneuerbare Ressourcen bezogen hatte, bezieht es sich jetzt auf Entwicklung. Mit dieser Verschiebung änderte sich die Wahrnehmung; die Bedeutung von Nachhaltigkeit verlagerte sich von Naturschutz auf Entwicklungsschutz. Angesichts der Tatsache, dass Entwicklung konzeptionell zu einer leeren Hülse geworden war, war das, was nachhaltig bleiben sollte, unklar und strittig. Daher sind in den folgenden Jahren alle Arten von politischen Akteuren, selbst glühende Verfechter des Wirtschaftswachstums in der Lage gewesen, ihre Absichten in den Begriff 'nachhaltige Entwicklung' zu kleiden. Der Begriff wurde somit bald selbst-referentiell, wie eine von der Weltbank angebotene Definition treffend bestätigt: 'Was ist nachhaltig? Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die anhält.'"
[aus: Wolfgang Sachs, Nach uns die Zukunft. Der globale Konflikt um Gerechtigkeit und Ökologie, Frankfurt/Main 2002, S. 65]

Will man trotz dieser Kritik auf die etablierte Kombination "nachhaltige Entwicklung" nicht verzichten, kann man nicht umhin, den Entwicklungsbegriff näher zu bestimmen und vom überholten Entwicklungsbegriff der Modernisierungstheorie abzugrenzen. Anregungen hierzu gibt das folgende Schaubild:



Sonntag, 5. März 2017

Wertewandel in der "Wendezeit" (Capra)

Das Jahrzehnt von 2005 bis 2014 wurde von den Vereinten Nationen zur Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" ausgerufen. Einen frühen deutschen Beitrag zu dieser Dekade bildete das kostenlos nutzbare Online-Lehrbuch Nachhaltigkeit, das in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Es gliedert sich in fünf Abschnitte:

1) Was heißt Nachhaltigkeit?
2) Wie handle ich nachhaltig?
3) Wie funktioniert eine Lokale Agenda 21?
4) Wie kann man das Klima schützen?
5) Welche Probleme gibt es auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung?

Der folgende Auszug stammt aus dem 5. Kapitel, das versucht, grundlegende Hindernisse aufzuzeigen, die den Weg hin zu einer nachhaltigen Entwicklung behindern. So spricht beispielsweise einiges dafür, dass Nachhaltigkeit und unsere vorherrschende Art zu Wirtschaften hinsichtlich der Ziele und Leitbilder inkompatibel sind. In seinem berühmten Weltbestseller "Die Kunst des Liebens" aus dem Jahr 1956 diagnostiziert der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm:
"Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in großer Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen (...). Er braucht Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen - und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie einzufügen (...). Was kommt dabei heraus? Der moderne Mensch ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet (...)". Er "überwindet ... seine unbewusste Verzweiflung durch die Routine des Vergnügens (...), außerdem durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu kaufen und diese bald wieder gegen andere auszuwechseln (...). Unser Charakter ist darauf eingestellt, zu tauschen und Dinge in Empfang zu nehmen, zu handeln und zu konsumieren. Alles und jedes - geistige wie materielle Dinge - wird zu Objekten des Tausches und des Konsums." [aus: Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, München 2000, S. 100-102]
Mit Blick auf die Wende hin zu einer nachhaltigen Entwicklung stimmt diese Analyse nachdenklich. In der Tat basiert unser wirtschaftliches Denken nach wie vor auf dem "Schneller, höher, weiter, mehr", auf dem Vertrauen darauf, dass sich die Probleme mit mehr Wachstum lösen lassen. Demgegenüber finden neue Wohlstandsmodelle wie das "Langsamer, weniger, besser, schöner" kaum Gehör (siehe "Die Vision vom solaren Zeitalter").

Bewusstseinswandel: Vom mechanistischen Weltbild ...

Erforderlich sei, so der berühmte Physiker und Vordenker einer ganzheitlichen Weltsicht, Fritjof Capra, ein grundlegender Wandel der Weltbilder und Wertvorstellungen. Dieser Wandel habe zwar begonnen, konnte sich aber noch nicht durchsetzen. Im Bereich der Wissenschaft wurde er ausgelöst von den bahnbrechenden Entdeckungen in der Physik Anfang des 20. Jahrhunderts. Im gesellschaftlichen Bereich sieht er eine Vorreiterrolle der weltweiten Ökologie- und Frauenbewegung.

Das Hauptproblem auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung besteht nach Capra darin, dass wir an einem überholten Weltbild festhalten, an einem mechanistischen Bild des Lebens, das auf der Physik Newtons basiert. Dieses überholte Paradigma charakterisiert er in seinem einflussreichen Buch "The Turning Point" (1982) folgendermaßen:
"Das Weltbild oder Paradigma, das jetzt langsam zurücktritt, hat unsere Kultur mehrere hundert Jahre lang beherrscht und hat während dieser Zeit die ganze Welt wesentlich beeinflusst. Es enthält eine Anzahl von Ideen und Wertvorstellungen: darunter die Auffassung, das Universum sei ein mechanisches System, das aus materiellen Grundbausteinen besteht; das Bild des menschlichen Körpers als einer Maschine; die Vorstellung des Lebens in der Gesellschaft als eines ständigen Konkurrenzkampfes um die Existenz; den Glauben an unbegrenzten materiellen Fortschritt durch wirtschaftliches und technisches Wachstum; und - nicht zuletzt! - den Glauben, dass eine Gesellschaft, in der das Weibliche überall dem Männlichen untergeordnet ist, einem grundlegenden Naturgesetz folgt. Alle diese Annahmen haben sich während der letzten Jahrzehnte als sehr begrenzt erwiesen und bedürfen einer radikalen Neuformulierung." [aus: Fritjof Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Vorwort zur deutschen Taschenbuchausgabe, München 1991, S. IX]
... zum ganzheitlichen Weltbild

Diese Neuformulierung folgt einem neuen Paradigma, einer ganzheitlichen oder ökologischen Weltsicht. Capra verwendet auch den Begriff "systemisches Denken":
"In der Naturwissenschaft bietet nämlich die in den letzten Jahrzehnten entwickelte Theorie lebender Systeme den idealen wissenschaftlichen Rahmen zur Formulierung des neuen ökologischen Denkens (...). Lebende Systeme sind integrierte Ganzheiten, deren Eigenschaften sich nicht auf die kleineren Einheiten reduzieren lassen. Statt auf Grundbausteine konzentriert sich die Systemtheorie auf grundlegende Organisationsprinzipien. Beispiele für Systeme gibt es in der Natur in Hülle und Fülle. Jeder Organismus - von der kleinsten Bakterie über den weiten Bereich der Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen - ist ein integriertes Ganzes und somit ein lebendes System. Dieselben Ganzheitsaspekte zeigen sich auch in sozialen Systemen, zum Beispiel in einer Familie oder einer Gemeinschaft, und ebenso in Ökosystemen, die aus einer Vielzahl von Organismen in ständiger Wechselwirkung mit lebloser Materie bestehen." [aus: Fritjof Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Vorwort zur deutschen Taschenbuchausgabe, München 1991, S. X]
Zentral für die systemische Sicht ist die Erkenntnis, dass das Ganze immer etwas anderes ist als die bloße Summe seiner Teile. In dieser Sicht sind nur diejenigen Maßnahmen akzeptabel, die auch langfristig tragfähig sind, die also die lebenden Systemen nicht schädigen. Insofern bildet dieses neue ökologische Paradigma eine ideale Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung. Umrisse des daraus folgenden Wertewandels zeigt das folgende Schaubild.