Dienstag, 1. Oktober 2019

Wohin geht eigentlich all die Zeit, die wir sparen?

Jegliche Technik lockt uns mit dem Versprechen, an irgendeiner Stelle Zeit einzusparen. Ob es nun das neue Küchengerät ist, welches mühsames Schneiden von Gemüse erleichtert, das Navigationsgerät, welches die schnellste Route mit unserem ebenso möglichst schnellen Auto empfiehlt, oder überhaupt erst das Auto im Gegensatz zur Kutsche. Zeitersparnisse versprechen ebenfalls der schnellere neue Computer, das schnellere Smartphone oder die schnellste Internetverbindung.

Gerade im Bereich der Kommunikation ist das Tempo geradezu unbeschreiblich. Mit einer Email sparen wir im Vergleich zum Brief mehr als die Hälfte der Zeit, durch Instant-Messenger kann bei einer Kurznachricht kaum noch von Zeitaufwand gesprochen werden. Wenn wir also an allen Ecken und Enden unseres Tagesablaufes Zeit sparen, drängt sich doch geradezu die Frage auf, wo all diese Zeit hingeht? Denn obwohl wir Zeit im Überfluss gewinnen, kennt doch jeder das Gefühl der Zeitnot. Ist das nicht paradox?

Diese Frage wird in der folgenden Arbeit beantwortet werden. Hierfür wird die Erfahrung des modernen Lebens unter dem Aspekt der sozialen Beschleunigung betrachtet. Auf Basis der Überlegungen Hartmut Rosas wird die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne thematisiert, um zu zeigen, inwiefern die soziale Beschleunigung das spätmoderne Leben durchdringt, und um zu klären, ob die Beschleunigung in der modernen Gesellschaft fest verankert ist. Leitfrage dieser Arbeit ist, ob die Beschleunigung als prägendes Merkmal der Moderne gilt und inwiefern die spätmoderne Gesellschaft dem Autonomieversprechen der Moderne gerecht wird.

Hierfür werden zunächst die verschiedenen Arten der Beschleunigung sowie ihre Motoren definiert, bevor die Entschleunigung thematisiert wird, um zu betrachten, inwiefern sie einen Gegentrend zur Beschleunigung darstellt. Darauffolgend wird das Erleben der Moderne analysiert und überprüft, inwiefern dieses als Beschleunigungserfahrung charakterisiert werden kann. Hierbei wird die Entwicklung der Zeitstrukturen im Verlauf der Moderne betrachtet, ebenso wie die Rolle der Gesellschaft gegenüber dem Individuum. Abschließend wird kritisch betrachtet, ob die Erfahrung des spätmodernen Lebens dem Ideal des selbstbestimmten Lebens entspricht.



Was ist soziale Beschleunigung?

Rosa argumentiert, dass es in der Moderne scheint, als ob sich „einfach alles“ (s. Rosa, 2013, S.17) beschleunigt. Die Geschwindigkeit des Lebens, der Kultur oder auch der Gesellschaft scheint sich endlos zu steigern. 100-Meter Läufer werden immer schneller und dass uns Begriffe wie „fast food, speed dating“ oder „power nap“ geläufig sind, zeigt, dass die Beschleunigung längst in den Alltag des modernen Menschen vorgedrungen ist. Jedoch ist dies kein Phänomen des 21. Jahrhunderts, sondern findet sich in diversen Formen im kulturellen Wandel in der Moderne (vgl. Rosa, 2013, S. 18 f.).

Gerade deshalb muss das Zeitalter der Moderne unter dem Aspekt der Beschleunigung betrachtet werden, um soziale Beschleunigung zu verstehen. Marshall Berman differenziert hierbei und definiert die Erfahrung der Moderne als Zustand unaufhörlicher Dynamik (Berman spricht von „modernism“ als Reaktion auf „modernization“), welche versucht wird, unter Kontrolle zu bringen. Dies unterstützt Rousseaus Beobachtung des sozialen Wirbelsturms sowie das kommunistische Manifest, in welchem es heißt „All that is solid melts into air“ (vgl. Rosa 2005 S. 71 f.).

Was wird beschleunigt?

Obwohl es sich, wie oben beschrieben, anfühlen mag, als ob sich einfach alles beschleunige, ist klar, dass dies nicht der Fall ist. Im Alltag zeigt sich das anhand des Verkehrs auf dem Weg zur Arbeit, oder auch anhand von Prozessen, die sich jedes Beschleunigungsversuchs widersetzen, wie etwa eine hartnäckige Grippe. Trotz dieser Ausnahmen ist es dennoch nicht falsch, die Erfahrung der Moderne als Beschleunigungserfahrung zu charakterisieren. Um systematisch zu differenzieren, wird zwischen drei Kategorien der Beschleunigung unterschieden. Grundlegend ist mit Beschleunigung eine Mengenzunahme pro Zeiteinheit gemeint (vgl. Rosa, 2005, S. 70 f.).

Technische Beschleunigung

Diese Form der Beschleunigung ist die offensichtlichste. Es handelt sich um intentionale, zielgerichtete Beschleunigung von Transport-, Kommunikations- oder Produktionsprozessen. Als Folge dieser technischen Beschleunigung wird ein „Sich-Zusammenziehen von Raum“ festgestellt. Dies zeigt sich etwa anhand der Semantik bezüglich Reisen, bei welcher die Distanz (welche konstant bleibt) durch die Reisedauer (welche sich stetig verkürzt) ersetzt wurde. Wenn jemand die Frage stellt, wie weit Berlin von dessen Standort entfernt sei, so wird die Antwort in Fahrt-/Flugstunden und nicht in Kilometern erfolgen. Und wenn sich die Reisedauer einer Strecke von einem Tag auf eine Stunde reduziert, so wird auch die Strecke als kürzer empfunden (vgl. Rosa, 2013, S. 20 f.).

Eben diese Entwicklung bringt auch eine unterschiedliche Erfahrung von Raum und Zeit mit sich. Die Raumerfahrung ist eng an die Art der Fortbewegung geknüpft. Gehen wir zu Fuß auf einem Feldweg, so nehmen wir diesen Raum mit allen seinen Qualitäten wahr, indem wir ihn fühlen, riechen, sehen und hören. Durch die Einebnung des Geländes durch eine Straße gewinnt die Fortbewegung eine Zielstrebigkeit und verliert damit Hindernisse und dementsprechend auch die Notwendigkeit, die direkte Umgebung wahrzunehmen. Beim Befahren einer Autobahn, wird jene ursprünglich unverzichtbare Wahrnehmung für den Raum auf einmal lebensgefährlich, denn der Fokus liegt gezwungenermaßen auf der Fahrbahn.

Den eigenen Standort erkennt der Fahrer nicht mehr anhand der vorbeiziehenden Landschaft, sondern durch einen Blick auf das Display des Fahrzeugs. Spätestens beim Fliegen geht nun jegliche Bindung zum überquerten Raum verloren. Dieser gilt hier nur als abstrakte, leere Distanz, welche lediglich durch die Flugdauer gemessen wird. Weniger Bezug zur räumlichen Distanz ermöglicht ausschließlich das Internet, welches regionale Differenzen komplett verschwinden lässt. Aufgrund dieser Entwicklung bildet sich eine „Ego-Zentrierung“ bei der Wahrnehmung des Menschen (vgl. Rosa; 2005, S. 164 f. & Virilio, 2002, S. 129).

Es zeigt sich außerdem eine Korrelation zwischen der Beschleunigung der Fortbewegung und der Mengenzunahme dieser Fortbewegung. Interessanterweise gibt es aber keinerlei kausalen Zusammenhang hierfür. Die Fähigkeit, eine Strecke in kürzerer Zeit zurücklegen zu können, gibt noch keinen Anlass dafür, dies öfter zu tun, und dasselbe gilt für die Produktion von Gütern. Mit Blick auf die Frage, wohin all die Zeit geht, die wir täglich sparen, zeigt sich hier bereits ein Teil der Antwort. Würde die Menge der Aktivitäten gleichbleiben, so würden aufgrund der technischen Beschleunigung Zeitressourcen freigesetzt werden und somit das Lebenstempo abnehmen. Dementsprechend muss Teil der Antwort sein, dass die Menge der Aktivitäten zunimmt. Die Zeitknappheit der Moderne entsteht also nicht weil, sondern obwohl durch die technische Beschleunigung enorme Zeitgewinne verzeichnet werden (vgl. Rosa, 2005, S. 117).

Beschleunigung des sozialen Wandels

Im Gegensatz zur technischen Beschleunigung, welche Beschleunigung in der Gesellschaft beschreibt, handelt es sich hier um die Beschleunigung der Gesellschaft. Beschleunigt werden hierbei die Veränderungsraten, mit der sich Gesellschaften wandeln. Hierbei ist die Rede von Einstellungen und Werten, jedoch auch von Moden und Lebensstilen. Da sich dies schwer empirisch messen lässt, schlägt Rosa vor, hierfür den Begriff der „Gegenwartsschrumpfung“, entwickelt von Hermann Lübbe, zu verwenden. Dieser Begriff bezieht sich auf einen Zeitraum relativer Stabilität. Damit ist ein Zeitraum gemeint, für welchen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zusammenfallen. Dies bedeutet, dass wir uns auf gemachte Erfahrungen beziehen können, um Schlüsse für die Zukunft zu ziehen (vgl. Rosa, 2013; S.23).

Durch schnelleren sozialen Wandel verkleinert sich die Zeitspanne, für welche wir die Zukunft einschätzen können. Während die individuellen Entwicklungen der nächsten 50 Jahre in einer Ständegesellschaft für den Einzelnen relativ leicht einzuschätzen sind, ist die Gesellschaft, in welcher wir in 50 Jahren leben werden, heutzutage unvorstellbar. Der Historiker Yuval Noah Harari formuliert dieses Phänomen folgendermaßen: „Wenn Ihnen jemand die Welt beschreibt, wie sie Mitte des 21. Jahrhunderts aussehen wird, und es wie Science-Fiction klingt, dann ist es vermutlich falsch. Aber wenn Ihnen jemand die Welt Mitte des 21. Jahrhunderts beschreibt und es nicht nach Science-Fiction klingt - dann ist es mit Sicherheit falsch.“ (s. Harari, 2018, S. 347).

Hier zeigt sich auch ein Beleg für die Beschleunigung des sozialen Wandels innerhalb der Moderne. Das Tempo in Lebensbereichen wie Familie und Arbeit hat sich von einer intergenerationalen Veränderungsgeschwindigkeit in der Frühmoderne bis hin zu einer intragenerationalen Veränderungsgeschwindigkeit gesteigert. In einer agrarischen Gesellschaft blieben die idealtypischen Familienstrukturen über Generationen hinweg gleich, während der „klassischen Moderne“ (Rosa nennt hierfür etwa zwischen 1850 und 1970) hielten diese Strukturen jedoch nur noch für die Dauer einer Generation. Im Zentrum der Familie stand ein Ehepaar und diese zerfiel mit deren Tod (vgl. Rosa, 2013, S. 25).

In der Spätmoderne zeigt sich jedoch erstmals die Tendenz, dass besagte Strukturen kürzer sind als die individuelle Lebensspanne. Beispielhaft würden sich hier erhöhte Scheidungsraten sowie häufige Berufswechsel nennen lassen. Wer Anfang des 20. Jahrhunderts bei Ford anheuerte, wusste auch, dass seine Karriere wahrscheinlich dort enden würde, während jemand der sich heute bei Google bewirbt, nicht ahnen kann, wo ihn die berufliche Karriere hinführen wird (vgl. Rosa, 2013, S. 22 ff.).

Beschleunigung des sozialen Wandels lässt sich also als „Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierten Erfahrungen“ definieren (vgl. Rosa, 2005, S. 133).

Beschleunigung des Lebenstempos

In modernen Gesellschaften haben soziale Akteure stets das Gefühl, dass es ihnen an Zeit fehlt. Zeit wird dementsprechend wie eine Ressource behandelt, welche immer knapper wird (wie zum Beispiel Öl). Diese Art von Beschleunigung definiert Rosa als „Steigerung der Zahl an Handlungs- oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“ (s. Rosa, 2013, S. 27). Sie tritt, ebenso wie die technische Beschleunigung, aus dem Drang auf, mehr in kürzerer Zeit tun zu können. Hier zeigt sich direkt das Paradox der sozialen Beschleunigung. Durch den technischen Fortschritt erhöht sich unser Output pro Zeiteinheit, dementsprechend sinkt der Zeitverbrauch bei gleichbleibender Tätigkeitsmenge. Infolge dessen müssten wir Zeit im Überfluss haben. Dennoch kommt es dem modernen Individuum vor, als würde die Zeit davonlaufen (vgl. Rosa, 2013, S. 27 f.).

Dies liegt daran, dass das Gesamtvolumen der Handlungen und Erlebnisse nicht konstant bleibt. Beispielsweise dauert das Senden einer Email nur einen Bruchteil der Zeit, die für das Senden eines Briefes benötigt wird, jedoch werden heutzutage mehr als doppelt so viele Emails versendet, wie es früher mit Briefen der Fall war. Es geht also schneller, doch die Steigerung des Volumens ist größer als die Beschleunigung durch die moderne Technik. Dementsprechend entsteht eine Verkürzung oder Verdichtung von Handlungsepisoden, welche letztendlich das Gefühl von Zeitnot bei uns auslöst (vgl. Rosa 2005, S. 135 f.). Diese zeigt sich etwa durch kürzere Schlafens- oder Essensdauer (Verkürzung) oder durch die Reduktion der Zeit zwischen zwei voneinander unabhängigen Aktivitäten (Verdichtung). Im Folgenden wird erläutert, wie es dazu kommen konnte (vgl. Rosa, 2013, S. 26 ff.).


Motoren der sozialen Beschleunigung

Eine weitverbreitete Annahme hierzu ist, dass die moderne Technik der Ursprung der Beschleunigung sei. Jedoch wird hierbei übersehen, dass die Technologie keinerlei Zwang mit sich bringt, etwa mehr Nachrichten am Tag zu lesen, oder mehr Kilometer zurückzulegen. Die Technologie ist dementsprechend eher die erste Antwort auf den Beschleunigungsdrang moderner Gesellschaften. Auch vor der Erfindung des Autos versuchten Menschen, Transport- oder Kommunikationsprozesse zu beschleunigen, indem sie beispielsweise die Pferde vor den Kutschen öfter wechselten. Rosa differenziert zwischen den unterschiedlichen Motoren sozialer Beschleunigung (vgl. Rosa, 2013, S. 34 f.).

Der soziale Motor: Wettbewerb

Benjamin Franklin beschrieb diesen Motor kurz und prägnant: „Zeit ist Geld“. Dies trifft einerseits zu, da durch Zeitersparnis am Arbeitsplatz ein direktes Mittel, um Kosten zu sparen, gefunden ist, andererseits zwingen die Prinzipien von Kredit und Zins Investoren, schnelle Gewinne zu erzielen. Demzufolge beschleunigt sich der ökonomische Sektor. In modernen Gesellschaften erfolgt jedoch auch die Verteilung von Gütern, Privilegien oder Positionen auf Wettbewerbsbasis und nicht, wie es in vormodernen Gesellschaften üblich war, durch das Geburtsrecht. Beispiele hierfür finden sich in der Politik, in welcher die Partei beziehungsweise die Person, welche den Wettbewerb um Wählerstimmen gewinnt, Macht und Privilegien gewinnt, oder auch in der Kunst, in der es gilt, sich anhand des Verkaufs von Tickets oder CDs gegen die Konkurrenz durchzusetzen (vgl. Rosa, 2013, S. 36 f.).

Es zeigt sich, dass die Leistung das alle Lebensbereiche umfassende Prinzip moderner Gesellschaften ist. Da Leistung in der Physik als Arbeit pro Zeiteinheit definiert ist, führen Beschleunigungsprozesse selbstverständlich zu Wettbewerbsvorteilen (vgl. Rosa, 2013, S. 35 ff.).

Der kulturelle Motor: Die Verheißung der Ewigkeit

Die Rolle der Beschleunigung für moderne Gesellschaften ließe sich mit der der Verheißung des ewigen Lebens in der Religion vergleichen. Die moderne Vorstellung des guten Lebens beinhaltet eine reiche Zahl an Erfahrungen sowie ausgeschöpfte Möglichkeiten. Als problematisch erweist sich jedoch die Tatsache, dass die Anzahl der Möglichkeiten stets die der Erfahrungen überschreitet. Die wahrgenommene Weltzeit und Lebenszeit von Individuen entfernen sich voneinander (vgl. Rosa, 2013, S. 39 f.).

Hierbei bietet die Beschleunigung des Lebenstempos die Lösung: Wer doppelt so schnell lebt, kann doppelt so viele Erfahrungen machen und damit auch den Anteil der aus den offenen Optionen realisierten Möglichkeiten verdoppeln. Zynisch ließe sich sagen, die Beschleunigung des Lebenstempos versucht als Antwort auf die Endlichkeit des Lebens zu dienen. Selbstverständlich führen dieselben Techniken, die es uns ermöglichen, Zeit zu sparen beziehungsweise schneller zu leben, zu einer rapiden Steigerung der Optionen, weshalb diese Rechnung nie aufgehen kann (vgl. Rosa, 2013, S. 39 ff.).

Der Beschleunigungszirkel

Die beschriebenen Beschleunigungsprozesse wirken in den drei identifizierten Dimensionen so aufeinander ein, dass ein Beschleunigungszirkel entsteht. Die technische Beschleunigung verändert stetig das etablierte Raum-Zeit-Regime und infolgedessen auch die sozialen Strukturen einer Gesellschaft. Die Kommunikationsstruktur beispielsweise wurde mit der Erfindung des Internets weltweit verändert und beschleunigt. Dementsprechend dienen technische Innovationen als Triebfelder des sozialen Wandels (vgl. Rosa, 2005, S. 471).

Hierdurch entstehen Chancen für die Individuen, welche jedoch auch eine Erhöhung des Wettbewerbs mit sich bringen. Dadurch folgen Anpassungszwänge und es entsteht Druck, mit den Veränderungen Schritt zu halten, weshalb sich ein Gefühl von Zeitnot bildet. Um sich also auf dem Laufenden zu halten und nicht den Anschluss zu verlieren, muss das Lebenstempo erhöht werden. Beschleunigter sozialer Wandel dient somit als Triebfeld für die Erhöhung des Lebenstempos (vgl. Rosa, 2005, S. 471).

Der Beschleunigungszirkel schließt sich dort, wo Individuen oder Organisationen auf die Verknappung ihrer Zeitressourcen als Folge des gesteigerten sozialen Wandels mit dem Ruf nach technischer Beschleunigung reagieren, also mit dem Versuch „Zeit zu sparen“. Somit dient das erhöhte Lebenstempo als Triebfeld für die technische Beschleunigung. Während diese Reaktion lediglich eine rationale Antwortstrategie auf das Problem sich verknappender Zeitressourcen darstellt, so bringt sie entgegen der eigentlichen Intention eine Verschärfung des Problems mit sich (vgl. Rosa, 2005, S. 472).


Entschleunigung

Die bisherige Beschreibung der Beschleunigung und ihrer Folgen mag dramatisch klingen und dementsprechend naheliegend ist der Ruf nach Entschleunigung. Um auf diesen adäquat einzugehen, müssen vorerst diverse Formen der Entschleunigung thematisiert werden.

Formen von Entschleunigung

Nach Hartmut Rosa lassen sich fünf Formen der Entschleunigung identifizieren und unterscheiden. Bei der ersten handelt es sich um natürliche Geschwindigkeitsgrenzen, die am Ende eines Beschleunigungsprozesses erreicht werden. Hierfür sind Tages- und Jahreszyklen sowie Schwangerschaften oder auch Infektionskrankheiten beispielhaft zu nennen (vgl. Rosa, 2013, S. 46 f.).

„Entschleunigungsoasen“ nennt Rosa die zweite Form der Entschleunigung und redet hierbei von Orten, wie etwa abgelegenen Inseln, welche von den akzelerierenden Modernisierungsmechanismen unberührt scheinen. Ebenso fallen aber auch Produkte, welche bewusst nach traditionellen Praktiken hergestellt werden, in diese Kategorie, obwohl sich hierfür eine ganze kommerzielle Industrie gebildet hat. Insofern stehen diese Produkte nur dann für Entschleunigung, wenn sie bewusst vor Beschleunigungsprozessen geschützt werden (vgl. Rosa, 2013, S. 48).

Teilweise findet sich die Entschleunigung nicht erst am Ende eines Beschleunigungsprozesses in Form einer Geschwindigkeitsgrenze, sondern bereits währenddessen als dysfunktionale Nebenfolge. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Stau auf Autobahnen, welcher entsteht, weil jeder Teilnehmer versucht, so schnell wie möglich voranzukommen. Andererseits ist auch die Burnout- bzw. Depressionserkrankung eine pathologische Form der Verlangsamung (vgl. Rosa, 2013, S. 48 f.).

Gegenüber den bisherigen, nicht-absichtlichen Formen der Entschleunigung steht die vierte Form, die intentionale Entschleunigung. Diese findet sich bisher bei jeder neuen Beschleunigungswelle, vor allem bezüglich der technischen Beschleunigung. Sowohl bei der Einführung der Dampfmaschine oder von Computern als auch im 21. Jahrhundert beim Auftreten von disruptiven Biotechnologien gibt es immer eine relativ große Gegenbewegung, welche bisher jedes Mal scheiterte. Es wird hierbei zwischen genau diesen ideologisch begründeten Entschleunigungsformen und funktionalen Formen der Entschleunigung, die nur regenerativen Zwecken dienen, unterschieden. Bei diesen handelt es sich um intentionale temporäre Entschleunigung (etwa ein Kuraufenthalt), welche in der Nachfolge die eigene Beschleunigungsfähigkeit deutlich steigern sollen (vgl. Rosa, 2013, S. 50 ff.).

Die fünfte Form der Entschleunigung, welche auch von größter Relevanz für diese Arbeit ist, bezeichnet Rosa als strukturelle und kulturelle Erstarrung. In spätmodernen Gesellschaften finden sich Anzeichen, dass deren Beschleunigung und Flexibilisierung und die damit scheinbar einhergehende Hyperoptionalität und unbegrenzte Zukunftsoffenheit ein bloßes Oberflächenphänomen sei. Dieses verdeckt lediglich, dass eigentlich keine grundlegenden Veränderungen möglich sind, sich das System der modernen Gesellschaft zunehmend schließt und die Geschichte an ein Ende kommt, das die Form eines rasenden Stillstands annimmt, da die Gesellschaft eigentlich keine Visionen oder Energien mehr hat (vgl. Rosa, 2013, S. 53 f.).

Warum nicht einfach entschleunigen?

Nachdem fünf Formen von Entschleunigung formuliert wurden, drängt sich die Frage auf: Wenn die Beschleunigung so dramatisch ist, sollte nicht einfach entschleunigt werden?

Wie es sich bereits in der Analyse der verschiedenen Arten von Entschleunigung abgezeichnet hat, stellt keine davon einen strukturellen Gegentrend zur Beschleunigung dar. Die ersten beiden Kategorien treten nur als Grenzen sozialer Beschleunigung auf und die dritte Form ist lediglich Folgewirkung der Beschleunigung. Die intentionale Form der Entschleunigung ist Bestandteil jeder Beschleunigungswelle und hat bisher doch nie die Oberhand gegenüber den „Beschleunigern“ gewonnen. Nur die letzte Form, die „Erstarrung“, lässt sich nicht als sekundäres Phänomen erklären. Viel eher scheint sie ein Komplementärphänomen und ebenso eine Kehrseite zur Beschleunigung zu bilden. So hat beispielsweise die Möglichkeit, Pflanzen zu züchten, die Angst vor der Vernichtung der Natur hervorgerufen (vgl. Rosa, 2013, S. 55 ff.).

Gerade anhand der kulturellen Erstarrung zeigt sich, inwiefern Beschleunigung das Erleben der Moderne beeinflusst. Gegenstand des nächsten Teils dieser Arbeit ist es, verschiedene Wirkungsweisen sozialer Beschleunigung und damit das Erleben der von Beschleunigung geprägten Moderne zu analysieren.


Erleben der Moderne

Erleben des beschleunigten sozialen Wandels: Rutschende Abhänge

Um eine Beschleunigung des sozialen Wandels und die damit einhergehende soziale Unsicherheit in Kontext setzen zu können, muss der Blick auf die Geschichte der Moderne gerichtet werden. Hierfür bietet esbsich an, verschiedene Teilbereiche und deren Entwicklung im Lauf der Moderne zu betrachten.

Das wahrscheinlich offensichtlichste Beispiel ist der Teilbereich der Familie. In der Frühmoderne stellte die Familie eine ökonomische Einheit dar, welche sich tendenziell über eine lange Kette von Generationen hinweg als stabil erwies. Bei einem Generationenwechsel wurden lediglich Positionen neu besetzt, die Grundstruktur aber in keiner Weise verändert. Der Historiker Arthur Imhof beschreibt dieses Prinzip anhand des Beispiels eines Bauernhofs folgendermaßen: „Nicht der individuelle Johannes Hoos […] war jeweils der Entscheidende. Wichtig war vielmehr, daß stets ein Nachkomme namens Johannes Hoos als Rollenträger bereitstand, um die Geschicke des Hofes […] zu lenken.“ (s. Imhof, 1984, S.188 zitiert nach Rosa, 2005, S. 180). Damit war der Hof trotz kurzer Lebensspannen über mehrere Jahrhunderte hinweg im Besitz derselben Familie (vgl. Rosa, 2005, S.179 f.).

In der klassischen Moderne wurde diese Familienstruktur durch das Ideal einer auf eine Generation ausgelegte Familie ersetzt, welche um ein Ehepaar zentriert ist. Hier erhält die Ehe erstmals eine identitätskonstruierende Rolle, denn es wird zur Aufgabe des modernen Individuums, eine eigene Familie zu gründen. Wenn beide Lebenspartner sterben, endet diese Familie als ökonomische Einheit im Gegensatz zur frühmodernen Familie (vgl. Rosa, 2005, S. 180).

Die Familienzyklen der Spätmoderne zeigen klare Tendenzen einer intragenerationalen Lebensdauer. Dies lässt sich sowohl anhand von steigenden Scheidungs- sowie Wiederverheiratungsraten ableiten als auch sprachphilosophisch anhand der in der Spätmoderne auftretenden Rollendefinition in einer Familie, welche sich tendenziell von einem Lebenspartner zum Lebensabschnittspartner entwickelt. Die lebenslange Monogamie, also das Paar für das Leben, wird durch eine neue Form der Familie, die des Liebespaares auf Zeit ersetzt (vgl. Rosa, 2005, S. 180 f.).

Eine ähnliche Entwicklung durchliefen die Beschäftigungsverhältnisse im Verlauf der Moderne. Während Berufe in der Frühmoderne (entsprechend der Familienstruktur) von Vätern an Söhne weitergegeben wurden und somit übergenerationale Stabilität aufweisen konnten, entwickelte sich in der klassischen Moderne bereits eine identitätsstiftende Beziehung zum Beruf. Es war Aufgabe des Individuums, einen eigenen Beruf zu finden. Während der Spätmoderne nimmt jedoch nicht nur die Stabilität von Beschäftigungsverhältnissen ab, sondern auch die Stabilität der Tätigkeit selbst (vgl. Rosa, 2005, S. 182).

Jemand, der bei Ford Anfang des 20. Jahrhunderts anheuerte, konnte davon ausgehen, sein Leben lang dort zu arbeiten. Wer jedoch Anfang des 21. Jahrhunderts beginnt, bei Microsoft zu arbeiten, hat nicht die geringste Idee, wo sein Berufsleben enden könnte (vgl. Rosa, 2013, S. 25 f.). „Heute muss ein Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium damit rechnen, in vierzig Arbeitsjahren wenigstens elfmal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens dreimal auszutauschen“ (s. Sennett S. 25, 1998 zitiert nach Rosa, 2005, S. 182).

Gerade diese Entwicklung beschreibt das Erleben des beschleunigten sozialen Wandels, da mit der Instabilität von Berufen das immer wieder neue Entwickeln von Identitäten einhergeht. Diese stetige Rekonstruktion der eigenen Identität zeigt sich vor allem anhand der Semantik bei der Betrachtung selbstbezogener Aussagen. Wurden für diese in der klassischen Moderne noch Identitätsprädikate verwendet („Ich bin Bäcker“ oder „Ich bin konservativ“), so werden diese in der Spätmoderne durch Flexibilitätsprädikate („Ich arbeite als Bäcker“ oder „ich wähle konservativ“) ersetzt (vgl. Rosa, 2005, S. 238).

Wie allgegenwärtig die Folgen dieses immer schneller werdenden sozialen Wandels sind, zeigt sich anhand des Kontingenzbewusstseins. Selbst wenn das eigene Leben nicht direkt vom sozialen Wandel betroffen ist, beispielsweise bei lebenslang verheirateten Paaren oder Arbeitern, welche nie die Stelle wechseln, so ist doch immer das Bewusstsein und somit auch das Risiko vorhanden, dass es sich jederzeit ändern kann. Ebenso bewusst ist es dem Individuum, dass dies sowohl aufgrund eigener als auch durch fremde Entscheidungen passieren kann. Der Soziologe Sighard Neckel beschreibt: „Allein nämlich, dass jeder weiß, dass es bei anderen anders ist, stellt den eigenen Lebensverlauf unter Begründungspflicht und gebiert den Handlungszwang, sich als Person selber erfinden zu müssen. […] Schon dies verändert die Gesellschaft, unabhängig davon, ob denn nun tatsächlich alles anders geworden ist.“ (s. Neckel, 2000, S. 40 zitiert nach Rosa, 2005, S. 181).

Mit schnellerem sozialem Wandel verlieren einst konstante Verhältnisse an Stabilität und es entsteht größere Unsicherheit. Selbst wenn ein Individuum nicht davon betroffen sein mag, so ist diese Unsicherheit (beispielsweise entlassen zu werden) dennoch allgegenwärtig, wodurch ein Gefühl permanenter Abstiegsangst entsteht (vgl. Rosa, 2005, S. 182 f.).

Als wiederkehrendes Merkmal findet sich hier die Beschleunigung von intergenerationalem über generationales bis hin zu intragenerationalem Tempo. Um also die Beschleunigung des sozialen Wandels abzulesen, muss das Verhältnis gleichzeitig lebender Generationen zueinander betrachtet werden (vgl. Rosa, 2005, S. 184).

Bezeichnend für diese Entwicklung ist die gesellschaftliche Stellung des Alters. In traditionalen Gesellschaften wird von den weisen Alten gesprochen, welche „alles gesehen“ haben und deshalb einen guten Rat für jede Situation finden. In der spätmodernen Gesellschaft jedoch beschreibt nicht mehr die Weisheit die ältere Generation. Im Gegenteil, es ist geradezu symptomatisch für das Alter, sich nicht mehr auszukennen oder nicht mehr mitzukommen. Infolge der Gegenwartsschrumpfung werden ihre Erfahrungen schneller entwertet und die jüngere Generation orientiert sich eher an Gleichaltrigen (vgl. Rosa, 2005, S. 188).

Die Verschiebung des gesellschaftlichen Ansehens beschreibt Amir Ahmadi beispielhaft anhand einer Autobiografie, die zeigt, dass Anfang des 20. Jahrhunderts Erfahrung und Alter gegenüber Flexibilität und Jugend bevorzugt wurden, weshalb die junge Generation stets bemüht war, älter auszusehen. Eine vergleichbare Entwicklung zeigt sich in der Spätmoderne, wo ältere Menschen ein Vermögen ausgeben, um jünger zu wirken (vgl. Ahmadi 2001, S. 191 ff. zitiert nach Rosa, 2005, S. 189).

Um das Erleben der Moderne darzustellen, wählt Hartmut Rosa die Metapher der „Rutschenden Abhänge“. Diese Metaphorik soll zeigen, dass dem modernen Individuum die Möglichkeit des Nicht-Handelns vorenthalten wird, weil dieses nicht nur einen sozialen Abstieg zur Folge hätte, sondern auch den Verlust der Anschlussvoraussetzungen für die Zukunft. Da sich die Handlungsbedingungen und deren Auswirkungen beständig ändern, gibt es keine Ruheposition, von welcher alle Optionen durchdacht werden könnten. Wie im Vergleich mit dem Erdrutsch, ändern sich hier alle Schichten mit unterschiedlichem Tempo, weshalb Desynchronisationserscheinungen auftreten, welche die Entscheidungsfindung erschweren, indem sie immer wieder Erfahrungen und Wissen entwerten und es unmöglich machen, vorherzusagen, welche Handlungschancen in Zukunft relevant und ertragreich werden könnten (vgl. Rosa, 2005, S. 190 f.).

Die logische Folge daraus ist die Flexibilisierung des Individuums mit dem Ziel, sich möglichst viele Optionen möglichst lang offen zu halten, was in einen stetigen Wettbewerb in diversen Lebensbereichen mündet. Infolge dieses Wettbewerbs entsteht ein System dynamischer Stabilisierung, bei welchem stetiges Wachstum nicht mehr den Aufstieg sichert, sondern nur den Abstieg verhindert (vgl. Rosa, 2005, S. 191).

Was passiert, wenn jemand versucht, sich dem beschleunigten sozialen Wandel zu verweigern, veranschaulicht Robert Levine, indem er einen Kollegen zitiert, welcher sich durch ausgedehnte Besuche in Südamerika dem hohen Lebenstempo in den USA entziehen wollte. Dieser beschreibt ein immer wiederkehrendes Gefühl von Entfremdung bei jeder Rückkehr in die USA. Er erkennt weder Mode noch Kunst oder wenigstens die Alltagssprache wieder, weshalb er teilweise den Gesprächen nicht mehr folgen kann (vgl. Levine, 1998, S. 80).

Die Beschleunigung des Lebenstempos: Zeitdruck

Zeitdruck ist grundsätzlich ein Phänomen subjektiver Wahrnehmung. Um dies richtig einordnen zu können, ist es sinnvoll, zuerst die objektiven Parameter hierfür zu betrachten. Wie bereits definiert, ist die Beschleunigung des Lebenstempos eine Steigerung der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit, welche entweder durch eine Verknappung von Zeitressourcen oder durch eine Verdichtung von Handlungs- oder Erlebnisepisoden entstehen kann. Objektiv lässt sich messen, wie sich die Zeitressourcen des modernen Individuums entwickeln und inwiefern diese eine Verdichtung von Handlungsepisoden zur Folge haben (vgl. Rosa, 2005, S. 198).

Für eine Steigerung der Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit stehen vier Techniken zur Verfügung, die sich miteinander kombinieren lassen. Erstens kann die Handlung selbst beschleunigt werden, beispielsweise durch schnelleres Gehen oder Kauen. Zweitens können Leerzeiten zwischen den einzelnen Aktivitäten gekürzt oder eliminiert werden und drittens können mehrere Handlungen simultan ausgeführt werden, wofür im alltäglichen Sprachgebrauch der Begriff Multitasking verwendet wird. Hinzu kommt viertens das Ersetzen einer Tätigkeit durch eine andere, schnellere, wie etwa Essen zu bestellen, statt selbst zu kochen (vgl. Rosa, 2005, S. 199).

Die hier vertretene These, welche besagt, dass die Handlungsepisoden sich über den Verlauf der Moderne kontinuierlich verdichtet haben, mag vorerst paradox klingen, da aufgrund der technischen Beschleunigung in allen Lebensbereichen immense Zeitressourcen freigesetzt werden.

Wer beispielsweise die Entwicklung der Arbeitszeit im Verlauf der Moderne betrachtet, wird feststellen, dass diese von 14 Stunden täglich auf 8 Stunden abgenommen hat. Naheliegend ist somit der Gedanke, dass durch die größere Freizeit das Lebenstempo abnehmen würde. Zumindest mit Bezug auf die Arbeitszeit zeigt sich jedoch als direkte Folge der Verkürzung des Arbeitstages eine Intensivierung der Arbeit und damit ein höheres Lebenstempo. Da das Lebenstempo als Menge pro Zeiteinheit definiert ist, korreliert dieses bezogen auf die erwerbsfreie Zeit nicht mit deren Länge. Bei höherem Wohlstand tendiert es jedoch dazu zu steigen (vgl. Rosa, 2005, S. 200).

Während die Beschleunigung des Lebenstempos also durchaus mit der zunehmenden Freizeit vereinbar ist, so ist das gleichzeitig entstehende Gefühl des Gehetztseins sowie das Erleben von Zeitdruck durchaus verwunderlich. Das eigentliche Paradox findet sich in dem Befund, dass die geschätzte Freizeit parallel zum Anstieg der tatsächlichen Freizeit kontinuierlich abnimmt (vgl. Rosa, 2005, S. 214-218).

Hierfür gibt es zwei naheliegende Ursachen: Die Verpassensangst und der Anpassungszwang. Die Verpassensangst gründet in der bereits erwähnten „Verheißung der Moderne“. Die moderne Idee des guten Lebens besteht in der „Auskostung von Weltoptionen“. Durch eine gesteigerte Erlebnisrate lässt sich das eigene Leben also erfüllter gestalten. Dementsprechend ist es nur natürlich, dass Subjekte schneller leben wollen (vgl. Rosa, 2005, S. 218).

Bemerkenswert ist jedoch, dass bei der Gestaltung der Freizeit in der Moderne eine Semantik des „Müssens“ bzw. „Verpflichtetseins“ vorherrscht. Sätze wie: „Ich muss dringend wieder joggen gehen“ oder „Ich sollte mich dringend wieder mit meinen Freunden treffen“, gehören zum Grundlagenvokabular des modernen Menschen. Dies kann als Folge der Verpassensangst auftreten. Das Subjekt empfindet sozusagen den Zwang, ein erfülltes Leben zu führen. Andererseits kann diese Semantik auch aufgrund des Anpassungszwangs entstehen. Die vollständigen Aussagen wären dann: „Ich muss dringend wieder joggen gehen (um attraktiv zu bleiben)“ und „Ich sollte mich dringend wieder mit meinen Freunden treffen (um nicht den Anschluss zu verlieren)“ (vgl. Rosa, 2005, S. 220).

Der Anpassungszwang folgt aus dem beschleunigten sozialen Wandel. Da sich eine Orientierung auf langfristige Ziele aufgrund der Gegenwartsschrumpfung immer weniger eignet, gilt es nun, möglichst viele Möglichkeiten offenzuhalten. Hier liegt der Grund für den ständigen Beschleunigungszwang in der Moderne, in dessen Folge Subjekte schneller leben müssen (vgl. Rosa, 2005, S. 220 f.).

Dieser Anpassungszwang zeigt sich exemplarisch bei der Sequenzierung von Tätigkeiten. Ein altes Sprichwort besagt: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“. Dies beschreibt eine Sequenzierung nach Wertigkeit, in welcher die wichtigste oder wertvollste Tätigkeit zuerst getan wird, danach die zweitwichtigste und die weniger wichtigen Tätigkeiten folgen, wenn dann noch Zeit übrig ist. Diese Sequenzierung nach Wertigkeit wird jedoch in der modernen, differenzierten Gesellschaft mit weit verknüpften Aktionsketten durch eine Sequenzierung nach Fristen ersetzt. Der moderne Mensch erfüllt also nicht die ihm wichtigste Aufgabe zuerst, sondern diejenige, welche als erstes erfüllt sein muss (vgl. Rosa, 2005, S. 221).

Durch die „power of deadline” verlieren Tätigkeiten, welche zwar als durchaus wertvoll erachtet werden, jedoch nicht an Fristen gebunden sind, an Wichtigkeit, so dass sie aus dem Blick geraten, weil das Subjekt sich von dem noch zu Erledigenden erdrückt fühlt und eigentlich permanent damit beschäftigt ist, irgendein „Feuer zu löschen“. ­­Trotzdem hinterlässt gerade der Wunsch, diesen „wertvollen“ Tätigkeiten nachzukommen, das Gefühl, „zu nichts zu kommen“ (vgl. Rosa, 2005, S. 221 f.).

Dies lässt sich mithilfe von empirischen Erhebungen belegen, welche Zeitverwendungsdaten mit Fragen der Lebensqualität in Verbindung setzen. Danach verbringen Akteure ihre Freizeit hauptsächlich mit Aktivitäten, welchen sie eine geringe Wertigkeit zuschreiben und welche ihnen bemerkenswerterweise auch nur geringe Befriedigung verschaffen. Das Paradebeispiel hierfür ist das Fernsehen. Von allen Freizeitaktivitäten erhielt es die niedrigste Wertigkeit, jedoch verbrachten die Befragten den größten Teil ihrer Freizeit vor dem Fernseher. Die Tätigkeiten, welche von den Befragten als klarer Bestandteil des guten Lebens erachtet wurden und dementsprechend hohe Befriedigung verschaffen, erhielten nur einen minimalen Anteil der verfügbaren Zeitressourcen. Es besteht also ein unübersehbares Missverhältnis zwischen dem, wovon Akteure behaupten, es gerne zu tun, und dem, was sie stattdessen wirklich tun (vgl. Rosa, 2005, S. 222 f.).

Wenn es denn nun die Zeitknappheit und der Druck der Deadlines sein soll, der Akteure davon abhält, die von ihnen als wertvoll erachteten Tätigkeiten auszuführen, wie ist es dann möglich, dass sie so viel Zeit damit verbringen, fernzusehen? Da Fernsehen keinerlei Vor- oder Nachbereitung benötigt, bietet es sich perfekt an, um kurze Zeitfragmente oder Pausen auszufüllen. Beleg hierfür ist ein markanter Rückgang des Fernsehkonsums während Ferienzeiten. Außerdem bietet sich das Fernsehen gut als „Ausgleichsaktivität“ an zu stresshaften Alltagserfahrungen, etwa durch den verdichteten Arbeitstag, da es mit Ausnahme des Schlafens, die wohl geringste Aktivität, sowohl psychischer als auch physischer Art erfordert. Zusätzlich verspricht das Fernsehen „instant-gratification“, also sofortigen Ertrag, ohne vorherigen Zeit- oder Energieaufwand. Hiermit lässt sich auch die allgemeine Geringschätzung des Fernsehens erklären, da es während der Aktivität hohe Befriedigung verschafft, welche nach Beendigung der Aktivität jedoch nicht nachhaltig bestehen bleibt (vgl. Rosa, 2005, S. 223 ff.).

Anhand dieses Missverhältnisses zwischen Werten und Handeln sowie des Erlebens von rasender Zeit lässt sich folgende Diagnose ablesen: Die Aktivität, der ein hoher Wert zugesprochen wird, welche aber stets zu kurz kommt oder aufgeschoben wird, da sie zu große Zeitressourcen benötigt, muss abgewertet werden, um ein gutes Leben zu führen. Wenn dies nicht geschieht, wird ein stetiges Gefühl des „Verpassens“ vorherrschen. Hierbei zeigt sich deutlich eine Form von Kulturverfall (vgl. Rosa, 2005, S. 226).


Kulturelle Erstarrung und Rasender Stillstand

Aufgrund der beschriebenen Phänomene zeigt sich in der hochdynamisierten postmodernen Gesellschaft, welche sich stetig wandelt, ebenso ein komplementärer Prozess struktureller Erstarrung. Das Leitmotiv der Moderne, also das selbstbestimmte Leben, wird durch Steigerungszwänge stark eingeschränkt, weshalb eine grundsätzlich unbewegliche Gesamtgesellschaft entsteht. Claus Offe beschreibt eine Vermehrung von Optionen und dementsprechend von Selbstbestimmung, jedoch vermehren sich diese Optionen lediglich in sich aufgrund der Komplexitätssteigerung verengenden Selektionsfiltern. Demzufolge ist die moderne Gesellschaft gerade durch Starrheit und Immobilität gekennzeichnet (vgl. Offe, 1986, S. 99 f. zitiert nach Rosa, 2005, S. 434 f.)

Aufgrund dieser Erstarrung nimmt die Wahrnehmung des Endes der Geschichte und der Wiederkehr des Immergleichen in der Moderne zu und steht somit dem selbstbestimmten Leben gegenüber. Mit dieser Wahrnehmung verliert die Gesellschaft ihren Status als politisch zu gestaltendes Projekt und ist nicht in der Lage, die Frage nach dem guten Leben adäquat zu beantworten (vgl. Rosa, 2005, S. 436 f.).

Während der Verlauf der Geschichte in der klassischen Moderne eine gerichtete und politisch gestaltbare Bewegung darstellte, ist die Wahrnehmung der Spätmoderne immer mehr die einer Veränderung ohne Richtung oder politischer Kontrolle. Die früher richtungsweisenden Merkmale politischer Ausrichtungen „konservativ“ oder „progressiv“ verlieren bzw. vertauschen ihre Bedeutung in der Spätmoderne. „Progressive“ Politik wirkt nicht mehr beschleunigend, denn durch den stetigen Versuch, die Kontrolle zu behalten, nimmt sie sogar entschleunigenden Charakter an. „Konservative“ Politik hingegen steht in der Moderne für das Festhalten an Flexibilisierung und Wettbewerb, statt dem Erhalt der politischen Kontrolle. Unter dem Druck, der durch permanente Gegenwartsschrumpfung entsteht, verliert moderne Politik ihren Gestaltungscharakter und nimmt einen situativ-reaktiven Charakter an. Insofern nimmt auch die Perzeption des Endes der Geschichte zu, da die Spätmoderne keine Vision mehr kennt, auf die es hinzuarbeiten gilt (vgl. Rosa, 2005, S. 477 f.).

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts bestand die globale Politik aus drei großen Erzählungen, welche für sich in Anspruch nahmen, die gesamte Vergangenheit zu erklären, vor allem aber auch die Zukunft der Menschheit vorherzusagen. Die faschistische Erzählung, die kommunistische Erzählung und die liberale Erzählung. Jede dieser Erzählungen verkörperte eine große zielgerichtete politische Entwicklung und diese standen im Konflikt zueinander. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die faschistische Idee offiziell gescheitert. Nach dem Ende des Kalten Kriegs fiel auch die kommunistische Erzählung in sich zusammen. Als Sieger ging also die liberale Erzählung, welche prägend für die Moderne Selbstbestimmung als Grundsatz beinhaltete (vgl. Harari, 2018, S. 23 f.).

Im Jahr 2016, welches vom Brexit-Votum und dem Aufstieg Donald Trumps geprägt war, gilt die liberale Erzählung jedoch entweder nicht mehr als wünschenswert oder als nicht realisierbar. Teile der Bevölkerung kehren zurück zu illiberalen nationalistischen Vorstellungen, andere sehen den Liberalismus lediglich als System zur Bereicherung einiger Weniger auf Kosten der Übrigen. Hatte das Individuum also im Jahr 1938 noch die Auswahl aus drei großen politischen Visionen, so waren es 1968 nur noch zwei und 1998 schien eine einzige Erzählung die Oberhand behalten zu haben. 2018 ist die Auswahl letztendlich bei null großen Visionen angelangt. Die Politik verliert damit ihren Gestaltungscharakter und handelt reaktiv statt proaktiv (vgl. Harari, 2018, S. 25 f.).

Infolge der fehlenden Vision der Spätmoderne tritt die Wahrnehmung des Endes der Geschichte auf, da vergangen gedachte historische Formen wieder zu zeitlosen Alternativen werden. Während die Begriffe Repression, Monarchie, Demokratie, Staatenbildung sowie Staatenzerfall oder (Ent-)Kolonialisierung in der klassischen Moderne bestimmte Entwicklungsstadien bezeichneten, so treten sie nun gleichzeitig auf. Jedoch findet dieses Phänomen auch seine Parallele auf individueller Ebene mit der Wahrnehmung einer Veränderung von einer stabilen Identität und einem klar strukturierten Lebenslauf hin zu einem offenen, nicht vorhersehbaren Leben und dem stetigen Erneuern der eigenen Identität. Eben dieser Dynamisierungsprozess, welcher mit dem Erreichen eines generationalen Veränderungstempos in der klassischen Moderne die Erfahrung gerichteter Bewegung und individueller Entwicklung bewirkte, erzeugt nun mit dem Überschreiten des generationalen Veränderungstempos die Wahrnehmung einer richtungslosen Bewegung und damit eines rasenden Stillstandes der sich der intentionalen Gestaltung entzieht und damit dem Autonomieversprechen der Moderne gegenüber steht (vgl. Rosa, 2005, S. 478 f.).


Fazit

In der Analyse der sozialen Beschleunigung muss zwischen den drei Arten der Beschleunigung differenziert werde. Die technische Beschleunigung verspricht eine hohe Zeitersparnis, hat jedoch eine Erhöhung der Aktivitätenmenge zur Folge. Die Beschleunigung des sozialen Wandels entwertet handlungsorientierte Erfahrungen und erschwert es somit, sowohl gute als auch langfristig sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Zuletzt die Beschleunigung des Lebenstempos, welche aufgrund der erhöhten Aktivitätenmenge pro Zeiteinheit auftritt und die Verkürzung und Verdichtung von Handlungsepisoden mit sich bringt. Aufgrund dessen entsteht ein Gefühl von Zeitnot bei den Individuen innerhalb der Gesellschaft.

Angetrieben werden diese Beschleunigungsmotoren von unterschiedlichen, der spätmodernen Gesellschaft inhärenten Motoren. Der Wettbewerb stellt den sozialen Motor dar, welcher eine steigende Leistung fordert, um sich als Teil der Gesellschaft einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz zu sichern. Der kulturelle Motor basiert auf der spätmodernen Konzeption des guten Lebens, welche als Ideal eine reiche Zahl an Erfahrungen und ausgeschöpften Möglichkeiten voraussetzt. Derselbe Beschleunigungsprozess, der dabei helfen soll, möglichst viele Möglichkeiten auszuschöpfen, kreiert jedoch unzählige weitere Optionen, weshalb der Druck auf das Individuum stetig zunimmt. Letztlich zeigt sich anhand des Beschleunigungszirkels, dass die drei Arten der Beschleunigung ein sich selbst antreibendes System bilden.

Es zeigt sich, dass Entschleunigung keinen tatsächlichen strukturellen Gegentrend zur sozialen Beschleunigung darstellt, da diese entweder am Ende eines Beschleunigungsprozesses stattfindet oder verwendet wird, um die eigene Beschleunigungsfähigkeit zu steigern. Intentionale Entschleunigung als Widerstand gegen die fortwährende Beschleunigung hat sich als erfolglos erwiesen. Die Erstarrung als Form der Entschleunigung tritt als Komplementärphänomen der Beschleunigung auf und ist maßgeblicher Teil der Erfahrung der Moderne.

Das individuelle Erleben verändert sich im Verlauf der Moderne aufgrund der Veränderung der Zeitverhältnisse enorm. Während sich in der Frühmoderne hauptsächlich intergenerationale Veränderungsstrukturen finden, so ändert sich dies in der klassischen Moderne, um dem Autonomieversprechen gerecht zu werden zu generationalen Strukturen. In der Spätmoderne hingegen finden sich intragenerationale Veränderungsstrukturen, weshalb ein Flexibilisierungszwang bei Individuen entsteht. Derselbe Beschleunigungsprozess, welcher in der klassischen Moderne erst die individuelle Autonomität ermöglichte, hat zur Folge, dass das Individuum diese in der Spätmoderne wieder verliert und gezwungen ist, sich möglichst viele Optionen offenzuhalten. Der Anpassungszwang verpflichtet also schneller zu leben. Je mehr Optionen jedoch ungenutzt bleiben, desto weniger entspricht das Individuum dem Ideal des guten Lebens. Aus Verpassensangst folgt als ein Wunsch schneller zu leben.

Das Individuum, welches in der klassischen Moderne die Möglichkeit erhielt, eigene Entscheidungen zu treffen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wird in der Spätmoderne also gezwungen, immer mehr Entscheidungen zu treffen, ohne dabei ein wirklich selbstbestimmtes Leben zu führen. Dieses Phänomen tritt jedoch nicht nur auf individueller Ebene auf, sondern ebenso auf politischer Ebene. Da die Spätmoderne, gegensätzlich zur klassischen Moderne, keine Vision mehr kennt, nimmt sie rein reaktiven Charakter an und verliert ihre Fähigkeit zu gestalten.

Offensichtlich ist diese Darstellung des spätmodernen Lebens einseitig und tendenziös. Die Gefahren und Abgründe werden gegenüber den eröffneten Möglichkeiten betont. Dennoch wird auf Basis der in dieser Arbeit gesammelten und erläuterten Argumente deutlich, dass die Beschleunigung als prägendes Merkmal der Moderne gilt und einen fest verankerten Bestandteil moderner Gesellschaften darstellt.


Quellen:

Harari, Yuval Noah (2018): „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“, C.H.Beck oHG, München

Levine, Robert (1998): „Eine Landkarte der Zeit: Wie Kulturen mit Zeit umgehen“, Piper, München/Zürich

Rosa, Hartmut (2005): „Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“, Suhrkamp, Frankfurt/M

Rosa, Hartmut (2013): „Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“, Suhrkamp, Frankfurt/M, 6. Auflage

Virilio, Paul (2002): „Rasender Stillstand“, Fischer, Frankfurt/M

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