Das Jahrzehnt von 2005 bis 2014 wurde von den Vereinten Nationen zur
Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" ausgerufen. Einen frühen
deutschen Beitrag zu dieser Dekade bildete das kostenlos nutzbare
Online-Lehrbuch Nachhaltigkeit, das in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Es gliedert sich in fünf Abschnitte:
1)
Was heißt Nachhaltigkeit?
2)
Wie handle ich nachhaltig?
3)
Wie funktioniert eine Lokale Agenda 21?
4)
Wie kann man das Klima schützen?
5)
Welche Probleme gibt es auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung?
Der folgende Auszug stammt aus dem 5. Kapitel, das versucht,
grundlegende Hindernisse aufzuzeigen, die den Weg hin zu einer
nachhaltigen Entwicklung behindern. So spricht beispielsweise einiges
dafür, dass Nachhaltigkeit und unsere vorherrschende Art zu Wirtschaften
hinsichtlich der Ziele und Leitbilder inkompatibel sind. In seinem
berühmten Weltbestseller "Die Kunst des Liebens" aus dem Jahr 1956
diagnostiziert der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe
Erich Fromm:
"Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in großer Zahl
reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen (...). Er
braucht Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für
sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen - und
die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man
von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie
einzufügen (...). Was kommt dabei heraus? Der moderne Mensch ist sich
selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet (...)". Er
"überwindet ... seine unbewusste Verzweiflung durch die Routine des
Vergnügens (...), außerdem durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu
kaufen und diese bald wieder gegen andere auszuwechseln (...). Unser
Charakter ist darauf eingestellt, zu tauschen und Dinge in Empfang zu
nehmen, zu handeln und zu konsumieren. Alles und jedes - geistige wie
materielle Dinge - wird zu Objekten des Tausches und des Konsums." [aus: Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, München 2000, S. 100-102]
Mit Blick auf die Wende hin zu einer nachhaltigen Entwicklung stimmt
diese Analyse nachdenklich. In der Tat basiert unser wirtschaftliches
Denken nach wie vor auf dem "Schneller, höher, weiter, mehr", auf dem
Vertrauen darauf, dass sich die Probleme mit mehr Wachstum lösen lassen.
Demgegenüber finden neue Wohlstandsmodelle wie das "Langsamer, weniger,
besser, schöner" kaum Gehör (siehe
"Die Vision vom solaren Zeitalter").
Bewusstseinswandel: Vom mechanistischen Weltbild ...
Erforderlich sei, so der berühmte Physiker und Vordenker einer ganzheitlichen Weltsicht,
Fritjof Capra,
ein grundlegender Wandel der Weltbilder und Wertvorstellungen. Dieser
Wandel habe zwar begonnen, konnte sich aber noch nicht durchsetzen. Im
Bereich der Wissenschaft wurde er ausgelöst von den bahnbrechenden
Entdeckungen in der Physik Anfang des 20. Jahrhunderts. Im
gesellschaftlichen Bereich sieht er eine Vorreiterrolle der weltweiten
Ökologie- und Frauenbewegung.
Das Hauptproblem auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung besteht nach
Capra darin, dass wir an einem überholten Weltbild festhalten, an einem
mechanistischen Bild des Lebens, das auf der Physik Newtons basiert.
Dieses überholte Paradigma charakterisiert er in seinem einflussreichen
Buch "The Turning Point" (1982) folgendermaßen:
"Das Weltbild oder Paradigma, das jetzt langsam zurücktritt, hat unsere
Kultur mehrere hundert Jahre lang beherrscht und hat während dieser Zeit
die ganze Welt wesentlich beeinflusst. Es enthält eine Anzahl von Ideen
und Wertvorstellungen: darunter die Auffassung, das Universum sei ein
mechanisches System, das aus materiellen Grundbausteinen besteht; das
Bild des menschlichen Körpers als einer Maschine; die Vorstellung des
Lebens in der Gesellschaft als eines ständigen Konkurrenzkampfes um die
Existenz; den Glauben an unbegrenzten materiellen Fortschritt durch
wirtschaftliches und technisches Wachstum; und - nicht zuletzt! - den
Glauben, dass eine Gesellschaft, in der das Weibliche überall dem
Männlichen untergeordnet ist, einem grundlegenden Naturgesetz folgt.
Alle diese Annahmen haben sich während der letzten Jahrzehnte als sehr
begrenzt erwiesen und bedürfen einer radikalen Neuformulierung."
[aus: Fritjof Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild,
Vorwort zur deutschen Taschenbuchausgabe, München 1991, S. IX]
... zum ganzheitlichen Weltbild
Diese Neuformulierung folgt einem neuen Paradigma, einer ganzheitlichen
oder ökologischen Weltsicht. Capra verwendet auch den Begriff
"systemisches Denken":
"In der Naturwissenschaft bietet nämlich die in den letzten Jahrzehnten
entwickelte Theorie lebender Systeme den idealen wissenschaftlichen
Rahmen zur Formulierung des neuen ökologischen Denkens (...). Lebende
Systeme sind integrierte Ganzheiten, deren Eigenschaften sich nicht auf
die kleineren Einheiten reduzieren lassen. Statt auf Grundbausteine
konzentriert sich die Systemtheorie auf grundlegende
Organisationsprinzipien. Beispiele für Systeme gibt es in der Natur in
Hülle und Fülle. Jeder Organismus - von der kleinsten Bakterie über den
weiten Bereich der Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen - ist ein
integriertes Ganzes und somit ein lebendes System. Dieselben
Ganzheitsaspekte zeigen sich auch in sozialen Systemen, zum Beispiel in
einer Familie oder einer Gemeinschaft, und ebenso in Ökosystemen, die
aus einer Vielzahl von Organismen in ständiger Wechselwirkung mit
lebloser Materie bestehen." [aus: Fritjof Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Vorwort zur deutschen Taschenbuchausgabe, München 1991, S. X]
Zentral für die systemische Sicht ist die Erkenntnis, dass das Ganze
immer etwas anderes ist als die bloße Summe seiner Teile. In dieser
Sicht sind nur diejenigen Maßnahmen akzeptabel, die auch langfristig
tragfähig sind, die also die lebenden Systemen nicht schädigen. Insofern
bildet dieses neue ökologische Paradigma eine ideale Grundlage für eine
nachhaltige Entwicklung. Umrisse des daraus folgenden Wertewandels
zeigt das folgende Schaubild.