Montag, 20. April 2020

Project Drawdown - Landnutzung durch indigene Völker und Klimaschutz

Spätestens seit der medialen Aufmerksamkeit rund um die Fridays-for-Future-Demonstrationen weltweit sollte jedem Menschen bewusst geworden sein, dass mit dem Klima unseres Planeten etwas nicht stimmt. „Make earth cool again“ fordert das Plakat eine*r Fridays-for-Future-Demonstrat*in in Berlin. Doch wie soll das eigentlich funktionieren mit dem Klimawandel. Was muss geschehen, damit wir die menschengemachte Erderwärmung stoppen bzw. rückgängig machen können?

Darauf gibt es keine einfachen Antworten, außer man leugnet den Klimawandel und richtet sich bequem im status quo ein. Das ändert jedoch nichts daran, dass Klimawissenschaftler*innen schon seit Jahren davor warnen, dass der Ausstoß klimaschädlicher Gase auf ein Minimum reduziert werden sollte, besser noch komplett gestoppt. Doch wie sollen wir das erreichen?

Eine amerikanische NGO namens Project Drawdown hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine Blaupause aller praktischen und umsetzbaren Maßnahmen zu erstellen, die bereits existieren, und zu zeigen, dass wir bereits alle Mittel haben, um den menschengemachten Klimawandel rückgängig zu machen. Wir müssen die uns zur Verfügung stehenden Mittel nur noch nutzen und sie in weltweiter Zusammenarbeit global umsetzen.

Dieser Blogbeitrag setzt sich mit einer der von Drawdown vorgeschlagenen Maßnahmen auseinander: Landnutzung durch indigene Völker. In einem ersten Schritt wird die Maßnahme beschrieben und deren CO2-Reduktionspotential aufgezeigt. Im Weiteren wird geprüft, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, dass die von Project Drawdown vorgeschlagene Maßnahme umgesetzt werden kann. Abschließend soll am Beispiel Lateinamerikas die Problematik der Ressourcenausbeutung und deren Einfluss auf indigene Bevölkerungsgruppen beleuchtet werden. Die ersten beiden Abschnitte beschäftigen sich genauer mit dem Project Drawdown als Ganzem, bevor auf die Lösung „Landnutzung durch indigene Völker“ eingegangen wird.


Project Drawdown

Project Drawdown ist eine amerikanische NGO, die 2014 durch den Umweltschützer Paul Hawken gegründet wurde. Die Vision von Project Drawdown ist der Stopp der globalen Erderwärmung durch die Erreichung von „Drawdown“. Der Begriff aus dem englischen markiert den Zeitpunkt in der Zukunft, wenn erreicht wurde, dass die Treibhausgaswerte in unserer Atmosphäre nicht weiter steigen und langsam beginnen wieder zu sinken.

Project Drawdown setzt zur Verwirklichung dieser Vision auf eine Zusammenstellung, Bewertung und Modellierung der wirksamsten vorhandenen Lösungen zur Erreichung von Drawdown. Hieraus entstand eine Liste von aktuell 100 Lösungen in Form von Projekten, Strategien und technischen Innovationen, mit denen sich Drawdown in einem Zeitraum von 30 Jahren erreichen lassen könnte. Natürlich unter der Voraussetzung, dass diese Lösungen in weltweiter Zusammenarbeit und auf globaler Ebene umgesetzt werden. (vgl. Hawken et al. 2019)

Zu jeder Lösung finden sich sowohl in dem 2017 erschienenen Buch „Drawdown – the most comprehensive plan ever proposed to reverse global warming“ [1] als auch auf der Website der Organisation eine Beschreibung, Hintergrundinformationen, Beispiele und aktuelle Informationen. Außerdem wird angegeben, wie viele Gigatonnen Treibhausgase vermieden oder der Atmosphäre entzogen werden können.

Angegeben wird dabei auch, wie viel Geld für die Einführung der Lösung bzw. der dafür notwendigen Technologien notwendig ist, sowie die Nettokosten, die allerdings in den meisten Fällen Einsparungen und keine Kosten sind. Am Ende des Buches findet sich auch ein Ranking der Lösungen anhand der Gesamtmenge der Treibhausgase, die jeweils eingespart oder aus der Atmosphäre entzogen werden können. Diese Gesamtmenge wird für den Zeitraum der nächsten 30 Jahre berechnet. (vgl. Hawken et al. 2019, S. 21 ff.) 

Die effektivsten Lösungen

Der folgende Ausschnitt eines TED-Talks von Chad Frischmann (Vizepräsident und Forschungsleiter bei Project Drawdown) zeigt ab Minute 3:31 die Top 20-Lösungen auf der Drawdown-Liste und bietet einige überraschende Erkenntnisse darüber, in welchen Bereichen ein Überdenken unserer aktuellen Herangehensweisen großes Potential birgt.


Chad Frischman unterstreicht, dass diejenigen Lösungen auf der Drawdown-Liste, die direkt oder indirekt damit zu tun haben, wie und warum wir Land nutzen, zwölf der Top 20-Lösungen auf der Drawdown-Liste ausmachen. Davon haben acht mit der Nahrungsmittelindustrie und vier mit der Art und Weise, wie wir Land nutzen, zu tun. (Frischmann 2018) Diese zwei Kategorien hängen untrennbar zusammen, denn 37% der Landflächen der Erde werden als Agrarflächen genutzt. Davon sind wiederum ca. 70% Weideland (Jering et al.).

Kritisch wird es, wenn weiterhin Landflächen, vor allem Waldflächen und insbesondere Urwälder, für Acker- oder Weideland erschlossen werden. Das populärste Beispiel sind die tropischen Regenwälder. Die größten davon gibt es in Indonesien und im Amazonasgebiet. Um die Landnutzungsrechte dieser Waldflächen streiten sich die unterschiedlichsten Interessengruppen. Der Schutz dieser Wälder ist besonders wertvoll für die Gesundheit unseres Klimas und damit unseres Planeten. Deshalb steht auf der Drawdown-Liste auch eine Lösung, die nicht die höchsten Werte erzielt, wenn es darum geht, viel Treibhausgase aus der Atmosphäre zu entziehen, aber deren langfristige Realisierung die Freisetzung von Unmengen an Treibhausgasen verhindert: Landnutzung durch indigene Völker. 

Landnutzung durch indigene Völker

Schon immer haben indigene Völker und lokale Gemeinschaften einen wichtigen Beitrag zum Erhalt unterschiedlichster Ökosysteme und Arten geleistet. Ihr Widerstand gegen die fortschreitende Entwaldung und die Ausbeutung von wertvollen Ökosystemen verhindert in vielen Fällen die Kohlenstoffdioxidemissionen und erhält oder erhöht die Kohlenstoffbinderate der von ihnen verwalteten Ökosysteme (vgl. Hawken et al. 2019).

Ihrem Einsatz liegen die unterschiedlichsten Interessen zugrunde. Insbesondere sind das wirtschaftliche, kulturelle, aber auch spirituelle Interessen am Erhalt ihres Lebensraums und der Natur. Die Gebiete, die von indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften geschützt werden, bezeichnet man als Indigenous Peoples´ and Community Conserved Areas, ICCAs. Dabei handelt es sich um natürliche und/oder veränderte Ökosysteme, die eine besonders große biologische Vielfalt besitzen und besondere Ökosystemleistungen sowie kulturelle Werte beherbergen, die geschützt werden müssen.

Diese Gebiete sind häufig als Schutzgebiete ausgewiesen und existieren auf der ganzen Welt in den unterschiedlichsten Ländern, Kulturen und Landschaftssystemen. Sie sind eine wichtige Ergänzung für staatliche Schutzgebiete und spielen eine wichtige Rolle für das Schutzgebietesystem eines Landes. (BMZ und BNUB 2014) Der Beitrag, den die indigenen Völker dabei zum Schutz von Ökosystemen leisten, kommt der gesamten Menschheit zugute, und der Schutz ihrer Landrechte ist deshalb aus gutem Grund zunehmend Anliegen nationaler und internationaler Klimaschutzmaßnahmen.

Das gilt insbesondere deshalb, weil der Klimawandel indigene Völker mit am härtesten trifft, obwohl sie am wenigsten zu seinen Ursachen beitragen. Die von ihnen besiedelten Gebiete liegen meist in ökologisch besonders sensiblen Gebieten wie Urwälder, Gebirge, auf kleineren Inseln oder am Wüstenrand. Sie sind durch ihre Lebensweise besonders stark auf die Ressourcen des von ihnen besiedelten Landes angewiesen und durch den Klimawandel und den dadurch hervorgerufenen Veränderungen ihres Lebensraums immer wieder zur Anpassung ihrer Lebensweise gezwungen. Hinzu kommt, dass sie sich durch ihre traditionelle Lebensweise, die Geschichte der Kolonialisierung und der gesellschaftlichen Ausgrenzung in einer besonders verletzlichen Position befinden. Trotzdem leisten sie einen enormen Beitrag zur Linderung der globalen Erderwärmung, von der wir alle profitieren (vgl. Hawken et al. 2019).

Für die Anerkennung dieser Leistung ist es wichtig, dass das Wissen und die Lebensweise indigener Völker, aber auch deren Notsituation sichtbar gemacht werden, wenn über Klimaschutz diskutiert wird. Deshalb ist es ein Zeichen für die zunehmende internationale Sichtbarkeit indigener Interessen, dass Project Drawdown den Schutz und die Erweiterung indigener Lebensräume in seinen Lösungs-Katalog integriert.

Die Übersetzung der Maßnahme ins deutsche als Landnutzung durch indigene Völker ist etwas weniger passend zum inhaltlichen Fokus als der englische Titel der Maßnahme „Indigenous Peoples´ Forest Tenure“, übersetzt: Waldbesitz indigener Völker. Project Drawdown bezieht sich nicht nur, aber zu einem großen Teil auf die Waldnutzung indigener Völker. Das mag daran liegen, dass die indigenen Völker in Amazonien und Indonesien, deren Territorien sich meist am Rande tropischer Regenwälder befinden, am stärksten im Fokus der internationalen Aufmerksamkeit liegen. Vor allem die indigenen Völker Amazoniens sind Bestandteil zahlreicher Studien und Veröffentlichungen. Der Grund hierfür könnte die große weltweite ökonomische und ökologische Bedeutung des Regenwaldes im Amazonasgebiet sein. 

Traditionelle Landnutzungssysteme indigener Völker

Traditionelle Landnutzungssysteme indigener Völker bestehen aus zahlreichen Praktiken, mit denen die Kohlestoffbindung in Pflanzen und Böden erhöht und die Emission von Treibhausgasen reduziert werden können (vgl. Hawken et al. 2019) . Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass es eine Vielzahl an unterschiedlichen Praktiken gibt, die von Volk bzw. Gemeinschaft zu Gemeinschaft unterschiedlich sein können.

Die traditionellen Praktiken sind weitaus nachhaltiger als konventionelle Landwirtschaftspraktiken und werden im höchstmöglichen Einklang mit der Natur praktiziert. Valerio Grefa U., selbst Teil einer indigenen Gemeinschaft in Lateinamerika und Mitglied der COICA (Dachorganisation und Koordinationsstelle der indianischen Organisationen des Amazonasbeckens), sagt dazu:
„Es ist allgemein anerkannt, daß die indigenen Völker seit Jahrtausenden ein System harmonischer Beziehungen zur Natur entwickelt haben. Für uns sind die Menschen und die Natur in einem einzigen eng verknüpften System zusammengefügt.“ (Valerio Grefa U. 1997)
Gemeinschaftswälder

Die Nutzung von Wäldern als Gemeineigentum ist tief verwurzelt in der Kultur indigener Gemeinschaften. Dieser Landbesitz wird manchmal von nationalen oder kommunalen Regierungen anerkannt, häufig jedoch auch nicht. Viele der indigenen oder kommunal bewirtschafteten Wälder sind lediglich durch Gewohnheitsrecht respektiert (Hawken et al. 2019). Dies bietet jedoch keinen dauerhaft abgesicherten rechtlichen Anspruch, der jedoch zentral für die gemeinschaftliche und traditionelle Bewirtschaftung von Wäldern ist.

Von ca. 400 bis 500 Millionen Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit der Nutzung von Wäldern verdienen, zählen ca. 60 Millionen zu den indigenen Völkern Lateinamerikas, Westafrikas und Südostasiens. Circa 3,2 Milliarden Hektar Wald werden als Gemeinschaftswälder bewirtschaftet. Zahlreiche Studien belegen, dass unsichere Landbesitzverhältnisse oder der Verlust von Landnutzungsrechten die Entwaldung und Degradation von indigenen Territorien beschleunigen. (vgl. Hawken et al. 2019)

Indigene Waldnutzung richtet sich nach kollektiven Entscheidungen über die Nutzung und den Erhalt bzw. die Pflege von gemeinschaftlich genutztem Wald innerhalb einer Stammes- oder Dorfgemeinschaft. Deshalb ist es auch essentiell, dass die Möglichkeit zur internen Selbstverwaltung der indigenen Völker erhalten bleibt (Valerio Grefa U. 1997). Es ist ebenfalls belegt, dass diejenigen Wälder, an denen Dorfgemeinschaften offizielle Eigentumsrechte haben, seltener abgeholzt werden und ökologisch gesünder sind als diejenigen Wälder mit ungesicherten Besitzverhältnissen. (Hawken et al. 2019)

Praktiken wie Brandrodung (einjährige Nutzung von Land mit anschließender mehrjähriger Regenerationszeit), Hausgärten (Landwirtschaft im Kleinen), Agroforstwirtschaft (Anbauform mit einer Mischung aus Baum und Nutzpflanzen) haben viele Vorteile gegenüber landwirtschaftlichen Anbauformen wie z.B. Monokulturen. Sie erhalten die biologische Diversität, bedeuten einen weitaus geringeren Eingriff in Ökosysteme und erhöhen allesamt die Kohlenstoffbindungsrate des bewirtschafteten Landes. (Hawken et al. 2019) 

CO2-Reduktionspotential bis 2050

Project Drawdown hat festgestellt, dass 486 Millionen Hektar Land im Besitz oder in der Obhut von indigenen Völkern ist. Trotzdem „variiert der Flächenanteil der indigenen oder sich in einer anderen Form von gemeinschaftlicher Obhut befindenden Wälder von Land zu Land stark“ (Hawken et al. 2019). Es wird jedoch davon ausgegangen, dass weitaus mehr Land von indigenen Völkern verwaltet wird.

Es wird erwartet, dass der Anteil an indigenen Waldflächen und anderer Formen von Gemeinschaftswäldern ansteigen wird, da es einen politischen Trend gibt, diese nachhaltige Form der Waldnutzung zu stärken. Land, das sich in der Obhut von indigenen Völkern oder ländlichen Gemeinschaften befindet, wird eine höhere Kohlenstoffbindungsrate zugeschrieben. Auch der Erhalt und der Schutz dieser Wälder ist dadurch sicherer. (Hawken et al. 2019)

Der Schutz vor Entwaldung ist in Bezug auf den Klimawandel von hoher Wichtigkeit. Durch Entwaldung wird der gespeicherte Kohlenstoff der abgeholzten Flächen in die Atmosphäre freigesetzt. 20 Prozent der weltweiten Kohlenstoffemissionen gehen auf Entwaldung zurück. (Lisa Murken 2015) Das größte Potential dieser Drawdown-Maßnahme liegt also in der Prävention des Ausstoßes von großen Mengen gebundenen Kohlenstoffs.

Project Drawdown gibt an, dass das bei einem Anstieg der gemeinschaftlich bewirtschafteten Wälder auf 850 Millionen Hektar und die dadurch vermiedene Entwaldung zu einer Vermeidung von 6,1 Gigatonnen Kohlendioxidemissionen führt. Gleichzeitig würden 232 Gigatonnen gebundener Kohlenstoff gesichert werden. Diese 232 Gigatonnen würden bei der Freisetzung in die Atmosphäre einer Menge von 850 Gigatonnen Kohlendioxid entsprechen (Hawken et al. 2019). Zum Vergleich: Das vom Weltklimarat errechnete weltweite Restbudget zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels entspricht 420 Gigatonnen CO2 (Stand 2017) (vgl. IPCC 2018).

Die Analyse von Project Drawdown zeigt auf, dass die Anerkennung von Landbesitz indigener Völker und ländlicher Gemeinschaften sowie deren Landwirtschaftssysteme nicht nur aus ethischen Gründen, weil sie die Wahrung der Menschenrechte dieser Gruppen garantiert, notwendig ist, sondern auch essentiell für den Schutz unseres Klimas und damit für die gesamte Menschheit ist. Die erfolgreiche Umsetzung dieser Drawdown-Maßnahme hängt von vielfältigen Faktoren ab.

Auf die Frage, was passieren muss, damit diese Drawdown-Maßnahme realisiert werden kann, gibt es natürlich keine einfache Antwort. Die Zusammenhänge sind sehr komplex. Die Vorstellung und die Forderungen der indigenen Gemeinschaften selbst und die der lokalen Regierungen und auch der internationalen Gemeinschaft sind zum Teil sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass indigene Völker und lokale Gemeinschaften nicht die einzigen Akteure sind, die Interesse an Wäldern mit ihrer Vielzahl an Ressourcen haben. Internationale Investoren und Regierungen sehen häufig den finanziellen Profit der landwirtschaftlichen oder industriellen Nutzung der Wälder und nehmen in Kauf, dass dafür abgeholzt werden muss. (Pasca 2004)

In den folgenden Abschnitten soll deshalb aufgezeigt werden, welche Grundvoraussetzung erfüllt sein müssen, damit indigene Völker in ihren Rechten gegenüber anderen Akteuren gestärkt werden und ihr Lebensraum geschützt werden kann. Darüber hinaus soll aufgezeigt werden, welche Maßnahmen zum Schutz ihrer Interessen existieren und wie diese sich gegebenenfalls verändern oder verbessern müssen, um die Drawdown-Maßnahme in die Realität umsetzen zu können.

Indigene Rechte

Ab 1970 formierten sich viele indigene Organisationen, um für ihre Rechte und ihre Anerkennung zu kämpfen. Sie profitierten von dem damaligen Aufschwung der internationalen Umweltbewegung. Diese sah in den indigenen Organisationen starke Verbündete. Diese beiden Akteure verband das Interesse am Schutz der biologischen Diversität und der nachhaltigen Bewirtschaftung anfälliger Ökosysteme.

Im Zuge des Weltgipfels 1992 in Rio de Janeiro gründeten die Vereinten Nationen eine Arbeitsgruppe für indigene Rechte. Darauf folgte die Annahme der ILO-Konvention (ILO = International Labour Organisation) und die Deklaration des indigenen Jahres 1993, worauf die Dekade der indigenen Völker folgte. Dies führte dazu, dass die Stimme der indigenen Völker auf internationaler Ebene mehr Beachtung fand.

Gleichzeitig fanden z.B. in den betroffenen Ländern Lateinamerikas Demokratisierungsprozesse statt, die zu Fortschritten auf Verfassungsebene führten und die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Anerkennung indigener Rechte schufen. Dies gilt vor allem für die Länder, in denen es eine starke indigene Bewegung gab und es dieser gelang, ihre Ansprüche und Forderungen in die nationale Diskussion einzubringen (insbesondere in Ecuador, Bolivien und Mexiko). Die Forderung der meisten indigenen Organisationen konzentrierten sich dabei auf politische Partizipation und weniger auf Vorschläge zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. (Deruytterre 1997) 

Forderungen der Indigenen

Das Recht auf interne Selbstbestimmung und autonome Entwicklung ist von hoher Bedeutung für indigene Völker. Valerio Grefa U. beschreibt autonome Entwicklung aus der indigenen Perspektive als ein umfangreiches Recht auf interne und externe Selbstbestimmung. Interne Selbstbestimmung ist gegeben, wenn die indigenen Völker selbst über ihr politisches System und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung bestimmen dürfen. Externe Selbstbestimmung garantiert das Recht, direkte Beziehungen zu Staaten herstellen zu dürfen.

Grefa U. betont jedoch, dass dieses Recht auf autonome Entwicklung nicht bedeuten darf, sich von einem Staat abzukoppeln, was zu einer Separation der indigenen Völker von den jeweiligen Staaten führen würde. Die indigenen Organisationen sehen vor allem in dem Recht auf Selbstverwaltung die Möglichkeit für eine umfassende Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. (Valerio Grefa U. 1997)

Neben der Anerkennung ihrer Kultur sowie einer angemessenen gesellschaftlichen und politischen Partizipation verlangen die indigenen Völker eine tiefgreifende Demokratisierung der jeweiligen Gesellschaft und der herrschenden Weltordnung. Sie fordern eine Abkehr von neoliberalen ökonomischen Strukturen. (Ströbele-Gregor 2006) 

Erfolgreiche Interessenvermittlung und Minderheitenrechte

Um diese Forderungen umsetzen zu können, braucht es Minderheitenrechte für indigene Völker. Interessenskonflikte sollten durch eine erfolgreiche Vermittlung zwischen den Indigenen, dem jeweiligen Staat und anderen Akteuren gelöst werden.

Gleiche Rechte für alle Bürger*innen innerhalb eines Landes ist eine unverzichtbare Voraussetzung, um in einer Gesellschaft ein gemeinschaftliches Miteinander aufrechtzuerhalten. Diese allgemeinen Rechte reichen jedoch nicht aus, um die Selbstbestimmung von Minoritäten in einer Gesellschaft zu sichern, denn Staaten neigen dazu, eine Mehrheitskultur zu fördern.

Viele Entscheidungen von Seiten eines Staates bergen demnach das Risiko, dass die Interessen von Minoritäten in einer Demokratie von denen der Mehrheit unterdrückt werden. Das gilt besonders für die Bereiche Sprache, Bildung, Spiritualität und auch für traditionelle Formen der Landnutzung. Um dies auszugleichen, ist es essenziell, spezifische Rechte für kulturelle Minderheiten zu schaffen, die auf ihre spezifischen Bedürfnisse, Praktiken und Identitäten ausgerichtet sind. Ohne solche gesonderten Schutzrechte haben Minderheiten nicht die gleiche Möglichkeit, ihre Kultur zu bewahren, wie Angehörige einer Mehrheitskultur. (Heinelt 2018)

Erfolgreiche indigene Interessenvermittlung ist dann gegeben, wenn bestimmte Zielsetzungen gewährleistet sind. Das sind politische Stabilität, Freiheit und Gleichheit indigener Völker in dem jeweiligen Staat. Damit ist sowohl die soziale als auch die politische Inklusion indigener Völker gemeint. Die größte Bedeutung hat dabei deren Einfluss auf Entscheidungsprozesse. Dieser Einfluss kann sich in Form von Kompromissen mit anderen Interessenvertretern oder in Form einer vollständigen Durchsetzung indigener Interessen zeigen. (vgl. (Heinelt 2018) 

Recht auf ein Territorium

Land wird in der Kultur indigener Völker im Gegensatz zur westlichen Kultur als kollektiver Besitz und als heiliger Ort gesehen. Auch wenn man nicht von der einen indigenen Kultur sprechen kann und eine einheitliche Definition schwer ist, vereint der Bezug zu ihrem Land und ihren traditionellen Territorien alle indigenen Völker. (Heinelt 2018) Die folgende Definition von José Martinéz Cobo, die die Gemeinsamkeiten indigener Völker betont, wird am häufigsten zitiert:
„Indigenous communities, peoples are those which, having a historical continuity with pre-invasion and pre-colonial societies that developed on their territories, consider themselves distinct from other sectors of the societies now prevailing in those territories, or parts of them. They form at present non-dominant sectors of society and are determined to preserve, develop and transmit to future generations their ancestral territories, and their ethnic identity, as the basis of their continued existence as peoples, in accordance with their own cultural patterns, social institutions and legal systems.“ (Martinéz Cobo 1983)
Das Recht auf ihr traditionell angestammtes Territorium ist für die indigenen Völker die wichtigste Grundlage für eine autonome Entwicklung. Ihre Lebensräume sind zugleich ihre wichtigste Existenzgrundlage und sichern den Fortbestand ihrer Identität, Spiritualität, Gemeinschaft und Kultur, da fast alle Bereiche ihres Lebens in starker Verbindung mit dem Land und seinen Ressourcen stehen.

Valerio Grefa U. definiert den Begriff Territorium als das Recht, über ein geographisches Gebiet genauso verfügen zu dürfen wie etwa eine Gemeinde. Das heißt, kontrollieren zu dürfen, was in diesem Gebiet geschieht und wie es genutzt werden darf. Dies beinhaltet das Recht auf Partizipation zu besitzen, wenn es zu kollektiven Entscheidungen kommt, die diese Territorien und die dortigen Ressourcen betreffen (z.B. der Bau eines Staudamms, oder der Bau von Straßen). (Valerio Grefa U. 1997)

Zu Konflikten kommt es, weil nicht nur Indigene besonders starke Interessen mit ihrem Land verbinden. Insbesondere wenn die betroffenen Gebiete für extraktive und infrastrukturelle Projekte genutzt werden können, sind sie von hohem materiellem Wert für Privatunternehmen und Regierungen. Indigene Völker verbinden mit ihrem Land jedoch nicht nur materielle Werte (Ressourcen als Grundlage für Subsistenzwirtschaft), sondern auch immaterielle Werte (Identität, Ahnenkult). (Heinelt 2018)

Die Beziehung der indigenen Völker zu ihrem Land sichert ihr geistiges Wohlergehen, ihre Identität und ihre Kultur. Die Konflikte um Landnutzungs- und Ressourcennutzungsrechte nehmen deshalb eine zentrale Rolle im Kampf für indigene Rechte ein.

Internationale Rechtsinstrumente

Auf internationaler Ebene sind konkrete Rechtsinstrumente wie die bereits erwähnte ILO-Konvention oder die UN-Erklärung zu den Rechten indigener Völker essenziell. Jedoch wurde die ILO-Konvention bislang nur von 22 Ländern ratifiziert. Viele Länder, in denen indigene Gemeinschaften leben, haben sie immer noch nicht anerkannt.

Das wichtigste international verbriefte Recht stellt die UN-Erklärung von 2007 dar. Diese befasst sich mit dem Schutz und der Anerkennung indigener Völker. Gegenüber der ILO-Kovention geht diese Resolution noch ein Stück weiter, indem sie Entschädigungsrechte im Falle von Enteignungen festschreibt. Wie alle bisherigen Schritte auf internationaler Ebene ist auch diese Erklärung über die Rechte indigener Völker rechtlich nicht verbindlich. (bpb 2019)

Hinzu kommt, dass die Beachtung und die Einhaltung der Erklärung bei den Nationalstaaten liegt. Die Nationalstaaten selbst entscheiden also, ob sie der Empfehlung nachkommen und Gesetzgebungen im Sinne der Erklärung erlassen bzw. bestehende Gesetze auf Unvereinbarkeiten mit der Erklärung überprüfen. (vgl. Rüttinger et al. 2015) 

Schutzgebiete für Menschenrechte und Naturerhalt

Auf nationaler Ebene stellen rechtlich abgesicherte Schutzgebiete ein wichtiges Instrument zur Sicherung indigener Rechte und zum Erhalt der Natur gegen die Interessen der Regierungen und der Unternehmen dar. Im Amazonas-Gebiet sind solche Schutzgebiete eine wichtige Ergänzung zu anderen Naturschutzgebieten.

Trotzdem dürfen indigene Schutzgebiete nicht automatisch mit Naturschutzflächen gleichgesetzt werden. Indigene Gemeinschaften verfolgen nicht in allen Fällen dieselben Ziele wie Naturschützer*innen. Trotzdem zeigen wissenschaftliche Studien über den Amazonas-Regenwald, dass Schutzgebiete für indigene Völker die Entwaldung stark reduzieren und in manchen Fällen in einem bestimmten Gebiet sogar stoppen. (vgl. Amend 2008; Hawken et al. 2019)

Außerdem verhindern rechtlich abgesicherte Schutzgebiete das Vordringen von Siedlungen in indigene Räume. Auch die landwirtschaftliche Erschließung oder die Vertreibung durch Landspekulanten wird dadurch verhindert. Schutzgebiete dieser Art schaffen eine rechtliche Grundlage, um erfolgreich gegen illegale Rodungen vorgehen zu können. Neben dem Naturerhalt stehen auch traditionelle Nutzungssysteme und der Erhalt kultureller Werte im Vordergrund. (vgl. ebd.)

Damit Schutzgebiete gut funktionieren, ist eine Zusammenarbeit aller Interessengruppen nötig. Dabei geht es um eine funktionierende Zusammenarbeit der Menschen vor Ort, aber auch zwischen den staatlichen Organisationen und NGOs auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene. (vgl. ebd.)

Partizipation und Good Governance in Schutzgebieten

Partizipation, also die Teilhabe indigener Völker an Entscheidungsprozessen, ist neben der Sicherung ihrer Landrechte von großer Bedeutung. Ohne die Mitwirkung indigener Völker an Entscheidungsprozessen, die ihre Territorien und ihr Land betreffen, kann keine nachhaltige Entwicklung stattfinden.

Von Good Governance spricht man, wenn politische und gesellschaftliche Strukturen die Beteiligung verschiedener Gruppen in Gesellschaften mit funktionierenden demokratischen Mechanismen ermöglichen. Es geht dabei im Grunde um verantwortungsbewusste Regierungsführung. Good Governance geht über den staatlichen Bereich hinaus und bezieht auch Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft mit ein. Die Einhaltung der Menschenrechte sowie die Orientierung an rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien leiten dabei die Handlungen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Bedürfnisse benachteiligter Gruppen gelegt. (vgl. Amend 2008)

In Bezug auf Naturschutz wurde erkannt, dass eine partizipative Verwaltung von Schutzgebieten weitaus mehr Vorteile bringt, als die Verwaltung der Schutzgebiete ausschließlich in staatliche Hand zu legen. Die Konvention über biologische Vielfalt fordert von den Unterzeichnerstaaten die Anwendung von Partizipation und Good Governance in ihren Naturschutzprogrammen. Insbesondere indigene und lokale Dorfgemeinschaften sollen am Management der Schutzgebiete teilhaben. Partizipationsformen reichen dabei vom Meinungsaustausch über die Teilnahme an Verhandlungen mit der Beteiligung an Entscheidungen bis hin zur kompletten Übernahme von Rechten und Pflichten durch die zivilen Akteure.

Wie viel Kontrolle über die Entscheidungen auf staatlicher Seite und wie viel davon auf zivilgesellschaftlicher Seite liegt, ist von Schutzgebiet zu Schutzgebiet unterschiedlich. Es zeigt sich jedoch, dass die aktive Einbeziehung lokaler Bewohner*innen dabei zu einer größeren Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für den Erhalt von Schutzgebieten führt. Durch die Einbeziehung der verschiedenen Interessengruppen in einem Schutzgebiet werden die Schutzgebiete in die umgebenden Landnutzungsprozesse eingebunden. Auf diese Weise laufen sie nicht Gefahr, irgendwann isoliert dazustehen. (vgl. ebd.)

Voraussetzung für die Partizipation indigener und anderer leicht verletzbarer Bevölkerungsgruppen ist der Zugang zu allen notwendigen Informationen, damit sie ihre Präferenzen auf Grundlage dieser Informationen selbst festlegen können (Deruytterre 1997). Es zeigt sich also, dass Schutzgebiete, die indigene Völker in die Verwaltung miteinbeziehen, besonders erfolgreich dazu beitragen, dass indigenes Wissen und traditionellen Praktiken erhalten bleiben.

Die Ausweitung bestehender Schutzgebiete oder die Ausweisung neuer kann dazu beitragen, dass die von Project Drawdown vorgeschlagene Maßnahme, die von indigenen verwalteten Gebiete um 368 Millionen Hektar zu vergrößern, in den nächsten 30 Jahren erreicht werden kann. Dabei muss allerdings garantiert werden, dass die Schutzgebiete die Partizipation indigener und lokaler Gruppen miteinbeziehen. So kann erreicht werden, dass Schutzgebiete langfristig und im Einklang mit der dort lebenden Bevölkerung existieren können.

In Brasilien stellt sich der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro als große Gefahr für die indigene Bevölkerung und deren Territorien dar. Er kündigte an, die bestehenden Schutzgebiete zu prüfen und wenn möglich ihren Status als Schutzgebiete abzuerkennen mit der Begründung, dass unter dem indigenen Land Wohlstand liegt. (Martin 2019) Die Tendenz Lateinamerikas, Wohlstand durch natürliche Ressourcen über Minderheitenrechte zu stellen, ist jedoch nichts Neues, auch in Ländern mit einer links-liberalen Regierung. Dies liegt an einem neo-extraktivistischem Entwicklungsmodell, das bei den Regierungen Lateinamerikas auf hohe Popularität trifft.

Neo-Extraktivismus und Ressourcenausbeutung

Seit Beginn der Kolonialepoche hat Lateinamerika die Rolle eines Primär- bzw. Grundgüterlieferanten. Möglich machten dies Sklaverei und andere Formen der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Dies änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die UN erkannte, welche Folgen die internationale Arbeitsteilung und Aneignung der Natur für Lateinamerika hat, und die Industrialisierung des Kontinents zu unterstützen begann.

In den 1970er Jahren führten die Militärregimes zu einer Abkehr von den Industrialisierungsbestrebungen. Eine neue Ära des Marktfundamentalismus entstand und blieb auch nach dem erfolgreichen Putsch dieser Regimes. Der wirtschaftliche Fokus auf den Export von Primär- bzw. Grundgütern blieb. (Lander 2014)

Mitte der 1990er Jahre kam es zu einer Verstärkung des Ressourcenabbaus in Lateinamerika. „Der Anteil der Primärgüter am Gesamtexport weitete sich – zum Teil erheblich – in immer mehr Ländern Lateinamerikas aus“ (Lander 2014). Linke Regierungen nutzten diesen Vorteil, indem sie den Abbau von Ressourcen stärker unter staatliche Kontrolle bringen und die nationale Beteiligung an den Gewinnen ausweiten. Mit den erhöhten Einnahmen aus dem Ressourcenabbau werden dann staatliche Entwicklungsprogramme finanziert. Diese Art zu wirtschaften wird als Neo-Extraktivismus bezeichnet. (vgl. ebd)

Der verstärkte Abbau im Bergbau und die Ölförderung schädigen jedoch die empfindlichen Ökosysteme auf dem Kontinent. Großunternehmer und Regierungen ignorieren die Landrechte ländlicher und indigener Gemeinschaften und vertreiben sie, um in ihren Gebieten Ressourcen abbauen zu können oder das Gebiet landwirtschaftlich zu nutzen. Dadurch verlieren diese Gemeinschaften ihre Lebensgrundlage.

Durch die Umweltverschmutzung nehmen Krankheiten zu und eine Subsistenzwirtschaft (Jagd, Fischerei, Landwirtschaft hauptsächlich zur Selbstversorgung) ist ohne gesundheitliche Schäden kaum noch möglich. Die Intensivierung der Rohölextraktion ist zudem eine große Bedrohung für indigene Völker. Das Vordringen von Förderunternehmen birgt einen fundamentalen Eingriff in die Kultur und die Territorien der ethnischen Minderheiten und bedroht deren Lebensraum. Im Bereich der Energiewirtschaft und der Agrarindustrie verhält es sich ähnlich. (vgl. Matthes 2019)

Kritiker*innen des Neo-Extraktivismus haben es schwer. Sie werden schnell als Gegner*innen einer sozialen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung dargestellt. Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen werden marginalisiert. Kritische Standpunkte weisen auch auf das hegemoniale Zivilisationsmodell von unbegrenztem Wachstum und der dauerhaften Unterwerfung der Natur hin. Dies schließt eine Kritik am Kapitalismus mit ein.

Befürworter*innen hingegen glauben, dass der Kapitalismus nur überwunden werden kann durch die finanziellen Vorteile des Extraktivismus. Sie verstehen den Extraktivismus als Übergangsphase, die zunächst einmal die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung sichert und die Ansammlung des nötigen Reichtums und der wissenschaftlichen Kenntnisse für eine spätere Überwindung des Kapitalismus ermöglicht. (vgl. Lander 2014)

Der unbeschränkte und unkontrollierte Zugang zu den ertragreichsten Ressourcen eines Landes durch die Regierung sichert auf bequeme Art und Weise deren Herrschaft. Dabei ist die Regierung nicht gezwungen, sich autonomen gesellschaftlichen Kräften zu stellen, auch wenn es in regelmäßigen Abständen Wahlen gibt. Vordergründig handeln diese Regierungen demokratisch im Dienst der breiten Mehrheit der Bevölkerung. Selbst wenn dies die dauerhafte Verwüstung ganzer Landflächen und den Verlust der Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung oder ganzer indigener Gemeinschaften zur Folge hat. (vgl. Matthes 2019)

Die Ursachen für diese Entwicklungen liegen nicht nur in den Ländern Lateinamerikas selbst. Vor allem Länder des Globalen Nordens und Schwellenländer tragen als Rohstoff-Abnehmer*innen die Verantwortung. Der Neo-Extraktivismus in Lateinamerika zeigt beispielhaft, dass die prekäre Situation indigener Völker in vielen Ländern nicht nur regionale oder historische Ursachen hat, sondern auch durch das international vorherrschende Wachstumsdenken und ausbeuterischer Handelswege mitverursacht und verschlimmert wird. Deshalb müssen auf globaler Ebene alternative Formen des Wirtschaftens entwickelt werden, die ökologische und soziale Faktoren mitdenken.

Ausblick

Project Drawdown schlägt vor, dass die Fläche indigen verwalteter Gebiete bis 2050 von 486 Millionen Hektar Land auf fest das Doppelte ansteigen soll. Zur Umsetzung dieser Lösung bedarf es jedoch in allen der hier thematisierten Bereiche noch einiger Arbeit. Es gibt noch kein bindendes internationales Rechtsinstrument, dass die Unterzeichner-Staaten zur Einhaltung von Regelungen zum Schutz indigener Rechte verpflichtet.

Trotzdem hat sich die Situation indigener Völker durch die bestehenden internationalen Rechtsinstrumente verbessert. Die Belange indigener Völker sowie deren Stimme werden in internationalen Klimastrategien mitgedacht. So gibt es im Rahmen der UNFCCC (Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen) eine Plattform für lokale Gemeinschaften und indigene Völker (LCIPP), die dem Wissenstransfer und der Beachtung indigener Rechte bei der Entwicklung von Klimaschutzstrategien dient.

Auf nationaler Ebene tragen die Etablierung und Ausweisung von Schutzgebieten zu einer Verbesserung der Situation indigener Völker bei. Diese Schutzgebiete sind eine wichtige Ergänzung zum Schutzgebietesystem der jeweiligen Länder. Damit diese Schutzgebiete langfristig und nachhaltig erfolgreich sein können, sind demokratische und partizipative Strukturen in der Verwaltung notwendig, die eine Beteiligung der lokalen und indigenen Bevölkerung garantieren. Die Erweiterung solcher Schutzgebiete kann die Erreichung der von Drawdown vorgeschlagenen Maßnahme zur Erweiterung indigen verwalteter Flächen positiv beeinflussen.

Bisher war Brasilien und sein Schutzgebietesystem in Amazonien beispielhaft dafür. Die Bestrebungen von Jair Bolsonaro, diese Schutzgebiete für den Abbau von Ressourcen wieder zu öffnen, stellen allerdings eine Gefahr für den tropischen Regenwald in Amazonien dar und aufgrund der globalen Bedeutung dieser Wälder für den globalen Fortschritt zum Schutz des Klimas. Dies zeigt, dass der Schutz der Natur und gesellschaftlicher Minderheiten durch autoritäre Kräfte und Gewinnstreben schnell wieder zunichte gemacht werden können.

Der Neo-Extraktivismus in Lateinamerika birgt ebenfalls eine Gefahr für die Fortschritte, die im Zusammenhang mit den Landnutzungsrechten indigener Völker gemacht wurden. Die Ressourcenausbeutung zum Zweck finanziellen Gewinnstrebens ist jedoch nicht nur in Lateinamerika ein Problem, sondern ein weltweites. Ohne ein globales Umdenken hin zu einer nachhaltigen Nutzung von natürlichen Ressourcen auch außerhalb von ausgewiesenen Schutzgebieten bleiben die bisherigen Bestrebungen nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Wir brauchen eine Abkehr von dem uneingeschränkten Wachstumsstreben einer neoliberalen Weltwirtschaft und müssen unsere Art des Wirtschaftens grundsätzlich überdenken. [2] Vor allem müssen die Länder des Globalen Nordens sich den Konsequenzen ihres Konsumverhaltens für Länder des Globalen Südens und deren Bevölkerung, insbesondere der marginalisierten Bevölkerungsgruppen, bewusst werden.

Anmerkungen
  • [1] Die deutsche Ausgabe erschien 2019 unter dem Titel „Drawdown der Plan - wie wir die globale Erderwärmung umkehren können“.
  • [2] Wer sich über alternative Formen des Wirtschaftens auf diesem Blog weiter informieren möchte, kann sich folgende Beiträge dazu anschauen: Postwachstumsökonomie, Donut-Ökonomie.
Literatur
  • Amend, Thora (Hg.) (2008): Wer schützt was für wen? Partizipation und Governance für Naturschutz und Entwicklung ; Anregungen aus der brasilianischen Amazonasregion. Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Heidelberg: Kasparek (Nachhaltigkeit hat viele Gesichter, 7). Online verfügbar unter http://d-nb.info/989793419/04.
  • Deruytterre, Anne (1997): Indigene Völker und nationale Entwicklung. In: Utta von Gleich (Hg.): Indigene Völker in Lateinamerika. Konfliktfaktor oder Entwicklungspotential? Frankfurt am Main: Vervuert (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg, 45), S. 46–52.
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