Donnerstag, 12. März 2020

Reallabore als Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung

Reallabore stehen für eine neuartige Erscheinung im Wissenschaftssystem. Die große Transformation hin zu einer nachhaltigen Entwicklung kann nur geleistet werden, wenn die globalen Herausforderungen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden. Hierzu ist auch die Wissenschaft gefordert. Das noch junge Forschungsformat Reallabor hält seit einigen Jahren vermehrt Einzug in die Nachhaltigkeitsforschung und kann als Beitrag für die Bewältigung von Transformationsprozessen angesehen werden. In der vorliegenden Seminararbeit soll näher beleuchtet werden, was Reallabore auszeichnet, wie die Arbeitsweise innerhalb der Reallabore erfolgt und warum Bürger-Rikschas, Parklets und Lastenräder Untersuchungsgegenstände von Reallaboren sind.

Globale Herausforderungen - Lösung by design or by disaster

Die aktuellen Lebens-, Konsum- und Arbeitsweisen, vor allem in den westlichen Industriestaaten, sind ressourcenintensiv und umweltschädlich. Bereits 1972 wurde der Weltöffentlichkeit in "Die Grenzen des Wachstums" verdeutlicht, welche Folgen und Schäden endloses Wachstum hervorruft. Die Gefahren, die damals noch kaum abschätzbar waren, sind heute aktueller denn je. „Klimawandel, Landnutzung und Bodendegradation, Zerstörung von Ökosystemen und Verlust an Biodiversität, Verknappung und Verschmutzung von Wasser, Boden, Luft, [a]nthropogen verursachte Naturkatastrophen, [die] Bevölkerungsdynamik und Entwicklungsdisparitäten, [die] Gefährdung der Gesundheit und Ernährungssicherung [und] Energie- und Ressourcensicherung“ (CASS/ProClim 1997: 9) stellen die Menschheit vor globale Herausforderungen, die eine nachhaltige soziale und ökologische Neuausrichtung fordern.

Der weltweite nachhaltige Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft kann als Große Transformation bezeichnet werden. Die zentralen Transformationsfelder Konsummuster, Produktion und Lebensstile müssen einer grundlegenden Veränderung unterzogen werden, damit ein Minimum an Treibhausgasemissionen erreicht wird und klimaverträgliche bzw. klimaneutrale Gesellschaften entstehen können. (vgl. WBGU 2011: 5) Dieser alles verändernde Wandel kann verglichen werden mit der Tragweite zweier bereits vorausgegangener Revolutionen: die Neolithische Revolution, der Übergang der Menschheit zum Ackerbau, sowie die Industrielle Revolution, der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Auf der Grundlage der Erhaltung der biophysikalischen Grenzen unseres Planeten plädiert der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) für einen „neuen Weltgesellschaftsvertrag für eine klimaverträgliche und nachhaltige Weltwirtschaftsordnung“ (WBGU, 2011). Einen Beitrag hierzu können Reallabore leisten.

Vor diesem Hintergrund werden gerade auf urbaner Ebene „fundamentale Änderungen der Landnutzungs-, Energie- und Transportsysteme, des Managements von Materialien und Stoffströmen sowie von städtischen Siedlungspolitiken und der baulich-räumlichen Gestalt von Städten“ (Kraas, Leggewie, Lemke 2016: 3) nötig. So können besonders Reallabore in Städten zukünftig als Scharnierfunktion zwischen Nachhaltigkeitsprozessen und Transformationsprozessen wirken, um „Wissen […] im urbanen Kontext auf[zu]bauen, untereinander aus[zu]tauschen und für Städte international verfügbar [zu] machen.“ (Kraas, Leggewie, Lemke 2016: 36)

Reallabore als neuartige Erscheinung im Wissenschaftssystem

Die Welt des 21. Jahrhunderts befindet sich in einem globalen Umbruch. Globalisierung, Klimakatastrophe und Digitalisierung vergegenwärtigen einen epochalen Wandel und leiten gesellschaftliche, soziale, politische und ökonomische Veränderungen ein. Die aktuellen und in der Vergangenheit durch Expansion geprägten Entwicklungsmuster der Länder des globalen Nordens, welche durch technische Innovationen und Wachstumssteigerungen gekennzeichnet sind, werden zunehmend fragil. Ein neues Verständnis von Fortschritt wird vonnöten sein.

Davon ist auch das gegenwärtige Wissenschaftssystem betroffen. Wissenschaft stellt nach wie vor einen der zentralen Treiber des Fortschritts dar. Doch wie kann das Wissenschaftssystem auf globale Herausforderungen und globale Transformationsprozesse reagieren? Der vorliegende Beitrag greift das Forschungsformat Reallabor als Teil transformativer und transdisziplinärer Wissenschaft und Forschung auf und benennt wichtige Eckpunkte der Reallaborforschung, die zur Förderung zukunftsfähiger gesellschaftlicher und nachhaltiger Entwicklungsprozesse Eingang in die wissenschaftliche Forschung fanden. (vgl. Schneidewind und Singer-Brodowski 2014: 13)

Ein wichtiger Meilenstein in den Wissenschaften stellt das Hauptgutachten des WBGU Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation aus dem Jahr 2011 dar. Darin wurden aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen neu gerahmt und die transformative Wissenschaft in den Diskurs aufgenommen. Der infolgedessen eingeleitete Diskurs in der deutschen Wissenschaftslandschaft wurde weiter fortgeführt durch die vom Umweltverband BUND eingebrachte Initiierung der zivilgesellschaftlichen Plattform Forschungswende, die von Umweltverbänden, Kirchen, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Akteuren getragen wurde. Dies trug weiter zur Beförderung der Diskussion über eine Neuausrichtung der Wissenschaftspolitik in Deutschland bei.

Im Jahr 2012 beschäftigten sich sowohl der Wissenschaftsausschuss als auch das Plenum des deutschen Bundestages mit dem Thema Wissenschaft für Nachhaltigkeit. Zudem gab es auf Länderebene eine Neuorientierung der Länder Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, welche sich mit dem Leitbild Nachhaltigkeit im Hinblick auf das Wissenschaftssystem auseinandersetzten. Zudem wurden auch auf der europäischen Ebene im Kontext des 8. Forschungsrahmenprogramms Horizon 2020 große gesellschaftliche Herausforderungen in die Agenda aufgenommen. (vgl. Schneidewind/Singer-Brodowski 2014: 13f.)

Reallabore als neu eingebrachtes Forschungsformat in der Wissenschaftslandschaft können unter der zunehmenden Relevanz von Transformationsprozessen gesehen werden. Sowohl in der nationalen als auch internationalen Debatte werden komplexe sozio-technische Transformationsprozesse aufgegriffen und in den Kontext der Nachhaltigkeitsforschung eingebettet. Die globalen Wandlungsprozesse werden geprägt von ihrer enormen Komplexität. Daraus ergeben sich vielfältige kausale Verknüpfungsmuster. In den letzten Jahren zeichnen sich Tendenzen eines experimental turn ab, welcher sich in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften vollzieht.

Da „klassische“ wissenschaftliche Methoden im Hinblick auf die Komplexität globaler Herausforderungen zunehmend ihre Grenzen erreicht haben, erfordern gesellschaftliche Transformationsprozesse transdisziplinäre Forschungsansätze. Dazu wurde im Kontext des experimentellen Wandels die Idee der Reallabore aufgegriffen. Reallabore können als wichtiges wissenschaftliches Instrument genutzt werden, wissenschaftlich begleitete Interventionen „in reale politische, soziale und gesellschaftliche Kontexte“ (Schneidewind 2014: 2) einzubinden, um zu einem „besseren Verständnis kausaler Verknüpfungen in diesen Systemen“ (ebd.) zu gelangen. (vgl. Schneidewind 2014: 1f.)

Begriffliche Orientierung - Transdisziplinäre Forschung und transformative Forschung

Das Aufkommen der neuartigen Reallabore bzw. Realexperimente muss im Lichte der sich in den letzten Jahren verändernden nationalen und internationalen Wissenschafts- und Forschungslandschaft betrachtet werden. Seit vielen Dekaden lassen sich die Wissenschaften als Motor moderner Gesellschaften verstehen. Dieses Mantra galt, beginnend mit der Industriellen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts, bis hinein in die 1960er Jahre. Wissenschaftliche Disziplinen wurden und werden aber zunehmend von Nebenfolgen getrieben, welche sie selbst, ob intendiert oder nicht-intendiert, herbeigeführt haben.

Einhergehend mit der ausgerufenen großen Transformation werden Antworten auf die bestehenden Schlüsselherausforderungen des 21. Jahrhunderts gesucht. Auf dem Weg hin zu einem „neuen Weltgesellschaftsvertrag für eine klimaverträgliche und nachhaltige Weltwirtschaftsordnung“ (WBGU, 2011) stellt sich auch die Frage nach der Rolle des Wissenschaftssystems. Dabei drängt sich die Antwort geradezu auf. Die großen gesellschaftlichen Transformationsprozesse müssen zusammen mit den Entwicklungsaufgaben des Wissenschaftssystems gedacht werden.

Das Forschungsformat Reallabor hat in der Nachhaltigkeitsforschung in den letzten Jahren vermehrt Zuspruch gefunden und an wissenschaftlicher Relevanz hinzugewonnen. Um einen schnellen Einstieg in die Reallaborforschung vornehmen und Bezüge zur Wissenschaftslandschaft herstellen zu können, werden im Folgenden zentrale Schlüsselbegriffe aufgegriffen und näher erläutert. Zudem wird kurz die Fragestellung angerissen, inwiefern Reallabore an Ziele nachhaltiger Entwicklung gekoppelt sind.

Unter transdisziplinäre Forschung wird die „Variante einer auf eine Synthese ausgerichteten interdisziplinären Forschung“ (Defila & Di Giulio 2018c: 39) gefasst. Transdisziplinarität stellt ein Forschungsparadigma dar, welches im Folgenden akteursorientiert verstanden wird. Hierbei leisten sowohl Forscher*innen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, auch als certified experts bezeichnet, als auch Praxisakteure einen substanziellen Beitrag in einem Forschungsprojekt, welches von ihnen zeitlich begrenzt oder über die gesamte Projektlaufzeit begleitet wird und der Forschung und Gesellschaft dient.

Praxisakteure, auch als außerwissenschaftliche Akteure, Praxispartner*innen oder non-certified experts bezeichnet, werden „als gleichberechtigte Mitglieder eines Projektteams oder als externe Beteiligte“ (Defila & Di Giulio 2018: 40) angesehen. Praxisakteure zeichnet aus, dass sie in Bezug auf ein untersuchtes Thema über eine die Forschungs-Expertise von Wissenschaftler*innen ergänzende Praxis-Expertise verfügen. Dabei kann es sich um „Angehörige von Berufsfeldern bzw. Praxisfeldern, gesellschaftlichen Gruppen, zivilgesellschaftlichen Organisationen (Verein, Verband etc.), privatwirtschaftlichen Unternehmen oder öffentlich-rechtlichen Einrichtungen (Ministerium, Verwaltungseinheit, Bildungseinrichtung etc.)“ (ebd.) handeln. Werden die Praxisakteure lediglich als Untersuchungsgegenstand angesehen, als Zielpublikum angesprochen oder als ‚Echoraum‘ aufgefasst, so wird nicht von einer transdisziplinären Zusammenarbeit gesprochen.

Der Begriff transformative Forschung bezeichnet eine Forschung, die nicht nur gesellschaftliche Veränderungen untersucht und System-, Ziel- und Transformationswissen bereitstellt, sondern gezielt gesellschaftliche Transformationen einleitet. Der Begriff wurde maßgeblich geprägt durch das 2011 veröffentlichte Hauptgutachten "Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation" des WBGU. Darin wird die gesellschaftliche Wirkung, die Forschung übernehmen kann und soll, aufgegriffen und die „transformative Forschung, partizipative Forschung und transdisziplinäre Forschung argumentativ zusammengeschlossen, ausgehend von der Annahme, dass die Partizipation von Praxisakteuren an Forschung deren gesellschaftliche Relevanz und Wirkung verstärkt.“ (Defila & Di Giulio 2018: 11)

Reallabore stellen den Versuch dar, als spezifisches Forschungsformat von der transformativen Forschung gerahmt zu werden und eine transdisziplinäre Kooperation einzugehen. Reallabore verfolgen eine Zielrichtung in dreifacher Hinsicht. Sie produzieren Erkenntnisse und neues Wissen (Forschungsziel), stoßen Transformationsprozesse an (Praxisziel) und schlagen Bildungsziele vor (Bildungsziel).

Der noch recht jungen Entstehungsgeschichte der Reallaborforschung im deutschen Sprachraum geschuldet, werden Reallabore „oftmals implizit oder explizit gleichgesetzt mit einer Forschung, die zu einer Nachhaltigen Entwicklung beitragen will (bzw. soll).“ (ebd.) Dies muss nicht zwingend erfolgen, da es keinen im Reallabor angelegten Grund für einen Bezug zur Nachhaltigen Entwicklung gibt. In der deutschsprachigen Reallaborforschung werden Reallabore dennoch ausschließlich als Beitrag zur Nachhaltigkeitsforschung untersucht. (vgl. ebd.)

Begriffsverständnis und Dimensionen eines Reallabors

Unter einem Reallabor wird ein Forschungsansatz verstanden, der in den letzten Jahren im wissenschaftlichen Diskurs zunehmend an Bedeutung gewann. Ähnliches gilt für die internationale Forschungslandschaft, welche durch die Begriffe Nachhaltigkeit und Transformation geprägt wird. Eine Vielzahl unterschiedlicher Begriffe wie „Living Labs, (urban) Transition Labs, Campus Labs, Sustainability Experiments und Transition Experiments sowie Realexperimente“ (Schäpke 2017: 1) finden in der Reallaborforschung abhängig vom Forschungssetting Verwendung.

Einen wichtigen Anstoß zum Aufbau und zur Verbreitung der Reallabore in Deutschland gab die Ausschreibung des Wissenschaftsministeriums Baden-Württembergs, welches in zwei Förderlinien Forschungsförderung ermöglichte. Es wurden 14 Reallabore in Baden-Württemberg in den Förderlinien Reallabore und Reallabore Stadt unterstützt und so zukunftsfähige und nachhaltige Lösungen erarbeitet.

Reallabore können als „wissenschaftlich konstruierte Räume einer kollaborativen Nachhaltigkeitsforschung mit Interventionscharakter“ (WBGU 2016: 542) angesehen werden. Den Mittelpunkt eines Reallabors bildet das Realexperiment. Realexperimente werden in Reallaboren herangezogen, um „Lösungen für Nachhaltigkeitsherausforderungen zu entwickeln und zu testen sowie eine Transformation und die ihr zu Grunde liegenden Dynamiken vertieft zu verstehen.“ (Schäpke 2017, S.1)

Reallabore sind immer in gesellschaftliche Kontexte eingebettet und verstehen sich als hybride Form des Experimentes. (vgl. Groß, Hoffmann-Riem & Krohn 2005) Dabei werden Interventionen als Realexperimente in den Kontext des Reallabors überführt, um über das Wirken sozialer Dynamiken und Prozesse Wissen zu generieren. (vgl. Schneidewind 2014: 3)
Reallabore dienen dazu, „robustes, gesellschaftlich akzeptiertes Wissen zur Lösung realweltlicher Probleme [zu] erarbeiten, zudem „das Wissen um diese Lösungen exemplarisch an[zu]wenden und [zu] erproben […] und, nicht zuletzt, auch eine Übertragbarkeit der Erkenntnisse in andere Kontexte [zu] ermöglichen“. (Schäpke 2017, S.1 nach Wagner & Grunwald 2015).
Reallabore bieten ein Instrumentarium, welches Wissenschaftler*innen und Praxispartner*innen gleichermaßen integriert, um gesellschaftliche Problemstellungen vor Ort anzugehen. Dabei wird der gesamte Prozess wissenschaftlich begleitet. Dies ermöglicht es, gesellschaftliche Transformationsprozesse verstehen und gestalten zu können. (vgl. Schäpke 2017: 3 nach Bauer 2013: 5).

Reallabore greifen konzeptionell den „Experimental Turn“ auf, welcher in den Sozial-, Wirtschafts- und Nachhaltigkeitswissenschaften Verbreitung findet, um „das Verständnis von Kausalitätsbeziehungen in gesellschaftlichen und politischen Prozessen“ (Schneidewind und Singer-Brodowski 2015: 15) besser zu verstehen. Reallabore dienen dazu, sozio-technische Veränderungsprozesse zu analysieren und „komplexe Transformationsprozesse zu verstehen und besser wissenschaftlich zu unterstützen“ (Schneidewind und Singer-Brodowski 2015: 126).

Das Forschungsformat Reallabor weist eine Verwandtschaft zu Forschungsansätzen auf, die transdisziplinären Paradigmen folgen. Hierunter fallen z.B. transdisziplinäre Fallstudien, die partizipativ ausgerichtete Aktionsforschung, die Feld- und Interventionsforschung, sowie die Transitionsforschung. (vgl. Schäpke 2017, S.4)

Aus den Erfahrungen der Reallaborinitiative, die 2014 gestartet wurde, können folgende Kriterien für Reallabore abgeleitet werden (vgl. MWK Baden-Württemberg 2013: 30):
  • Co-Design und Co-Produktion des Forschungsprozesses in Kooperation mit der Zivilgesellschaft und den Praxispartner*innen,
  • ein transdisziplinäres Forschungsverständnis der beteiligten Akteure,
  • eine langfristige Begleitung und Anlage des Forschungsdesigns,
  • ein breites disziplinäres Spektrum,
  • eine kontinuierliche methodische Reflexion des Vorgehens
  • sowie eine Koordination der Begleitforschung durch Institutionen.

Reallabor-Prozess

Reallabore zeichnen sich dadurch aus, dass sie von einer transdisziplinären Kooperation gerahmt werden. Sie bieten sich an, Strukturen der Vernetzung und Kooperation aufzubauen. Dabei bildet sich im Idealfall eine Akteurskonstellation aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Die transdisziplinäre Zusammenarbeit wird geleitet von einem „Ko-Design des Forschungsprozesses und [einer] Ko-Produktion von Wissen“ (Schäpke 2017, S. 3 nach Mauser et al. 2013). Diese beiden Phasen werden vervollständigt durch eine Co-Evaluation, welche am Ende des Forschungsprozesses Ergebnisse sammelt und auswertet. (vgl. Rose, Wanner, Hilger 2018: 6)

Das Anliegen während des Forschungsprozesses liegt nicht nur darin, verschiedene Wissensformen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen einzubringen und deren Integration zu ermöglichen, sondern neben Beteiligungsprojekten auch Lernprojekte durchzuführen. Während des gesamten Forschungsprozesses wird das methodische Vorgehen kontinuierlich reflektiert sowie von Seite der wissenschaftlichen Forschung begleitet.

Reallabore haben den Anspruch, eine Integration wissenschaftlichen Wissens mit Wissen, das bei Praxis-Akteuren vorliegt, vorzunehmen. Dabei werden bei einem idealtypischen Forschungsprozess von Beginn an Praxispartner*innen berücksichtigt (Co-Design) und diese bei „der Formulierung der Forschungsfrage über die Auswahl geeigneter Forschungsmethoden bis hin zur Diskussion und Verbreitung von Forschungsergebnissen mit einbezogen [(Co-Produktion)].“ (Schneidewind und Singer-Brodowski 2015: 18) Somit findet permanent eine Rückkopplung und Verschränkung der verschiedenen Wissensarten zwischen den beteiligten Akteuren statt. 

Thematische und geografische Verortung eines Reallabors

Sowohl thematisch als auch geografisch gibt es kaum Einschränkungen für Reallabore. Als Bezugsraum eines Reallabors können „Stadtquartiere oder ganze Städte, Regionen (z.B. ländliche Regionen, Biosphärenreservate, Nationalparks), Projekte auf Konversionsflächen, Hochschulcampi, aber auch Branchen und Wertschöpfungsketten oder ein regionales Mobilitätssystem“ (Schäpke et al. 2017: 4 nach MWK - Ministerium für Wissenschaft 2013) dienen.

Was thematische Anwendungsbereiche betrifft, so werden Projekte wie die “Sanierung von Stadtteilen oder die Einführung neuer Mobilitäts- und Energiesysteme, […] Forschungsfragen eines Umweltverbandes, einer Energiegenossenschaft oder eines Fahrradclubs oder eines Technologiekonzerns“ (Schäpke et al. 2017: 4 nach MWK 2013) angestoßen. Zudem werden Fragen wie „Nutzendenverhalten in Bürogebäuden, Bottom-up-Quartiers- und Stadtentwicklung, […] [sowie] Sharing oder die Beilegung von Landnutzungskonflikten“ (Wanner und Stelzer 2019: 5) behandelt. Die thematische und geografische Offenheit eines Reallabors ermöglicht auch den Praxispartner*innen, Orte und Themen einzubringen.

Realexperimente als zentraler Bestandteil von Reallaboren

Reallabore bilden den Raum und Rahmen für Realexperimente. Experimente werden dazu herangezogen, sozialen Wandel zu erforschen und anzuregen, um damit Lösungen entwickeln und erproben zu können. Ursprünglich wurden unter dem Begriff des Realexperiments experimentelle Zustände gefasst, die infolge unvorhergesehener und unkontrollierter gesellschaftlicher Entwicklungen entstanden. Die Gesellschaft wurde so aufgrund nicht-intendierter Folgen gesellschaftlichen Handelns zum Experimentierraum. Schneidewind (2014) wendet die negative Konnotation des Begriffs Reallabor ins Positive und fasst „Reallabore als Orte gezielter (und zumindest in Teilen kontrollierter) Experimente in realweltlichen Settings.“ (Schäpke 2017: 14)

Beim Forschungsformat Reallabor wird der naturwissenschaftliche Labor-Begriff übertragen auf konkrete gesellschaftliche und politische Kontexte. Dabei wird das Experiment als klassische Methode der Grundlagenforschung zur Wissensproduktion verbunden mit einer im lokalen Raum anzuwendenden forschungsbasierten Unterstützung von realweltlichen Transformationsprozessen. Nach De Flander et al. (2014) übernehmen Realexperimente Elemente, die im Kontext naturwissenschaftlich-technischer Laborkonzepte zu finden sind. Diese werden in eine sozialwissenschaftliche Methodik eingefügt.

Durch Experimente erfolgt ein gezielter Eingriff in ein System. Dadurch wird eine Bewertung der Intervention vorgenommen sowie deren Wirkung evaluiert. Anhand von Realexperimenten wird eine Verschränkung individueller und gesellschaftlicher Lernprozesse, die auf eine nachhaltige Transformation zielt, vorgenommen. Das transformative Experimentieren ermöglicht es, beteiligte Akteure in einen reflexiven Handlungsmodus einzubinden und ein gemeinsames Forschen, Lernen und Verändern hervorzurufen. Der Lernprozess, der aus diesen Interventionen resultiert, „erzeugt Erkenntnisse sowohl für die wissenschaftliche und persönliche Reflexion als auch für alle am Transformationsprozess Beteiligten.“ (Schneidewind und Singer-Brodowski 2015: 20)

Im Vordergrund des Experiments steht dabei nicht der definierte Output, sondern der Prozess der Kooperation zwischen Akteuren. Die Partizipation an Transformationsprozessen auf lokaler Ebene kann zum Ausprobieren anregen, konkrete Erfahrungen der Reflexion zulassen, eine Fehlerkultur fördern und verschiedene Wissensformen katalysieren. (vgl. (Schneidewind und Singer-Brodowski 2015: 20)

Realexperimente stellen Experimente hybrider Form dar. Das Realexperiment kann eingeordnet werden zwischen die Feldbeobachtung, welche sich auf die Beobachtung beschränkt und rein teilnehmend stattfindet, die technische Implementierung, die einzelne Technologien implementiert bzw. zwischen das Laborexperiment, welches Interventionen untersucht und kontrolliert abläuft, sowie die ökologische Implementierung, welche Ansätze wie die Transition-Towns begleitet. (vgl. Schneidewind und Singer-Brodowski 2014: 126)

Bei Realexperimenten wird sowohl unter kontrollierten Bedingungen als auch in situationsspezifischen Kontexten Wissen generiert. Neben der Integration unterschiedlicher Wissensformen aus verschiedenen Disziplinen wird bei einem Realexperiment das generierte Wissen direkt an die in der Praxis handelnden Akteure zurückgespiegelt. Durch Realexperimente wird ermöglicht, Transformationsprozesse zu analysieren und eine Veränderung des untersuchten Systems vorzunehmen. Daraus resultiert „ein umfassenderes Verständnis von Innovations- und Transformationsprozessen in soziotechnischen Systemen einerseits und eine Intervention im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung andererseits.“ (Schneidewind und Singer-Brodowski 2015: 16) 

Akteure eines Reallabors

Der Erfolg eines Reallabors ist wesentlich von der Frage abhängig, wie die Akteure miteinander verknüpft sind bzw. wie diese vor der Implementierung eines Reallabors verknüpft werden. Die Erfahrung aus beiden Förderlinien der BaWü-Labs zeigt, dass die Zahl und Ziele der Akteure, deren Engagement, die Verfügbarkeit und das Beziehungsgeflecht der Akteure den Fortgang des Reallaborprozesses maßgeblich bestimmt. Diese Aspekte sollten in jeder Phase eines Reallabors von Bedeutung sein und berücksichtigt werden.

Unter Akteure können „individuell oder kollektiv sozial Handelnde“ (Seebacher, Alcántara & Quint 2018: 155 nach Gabriel 2004) verstanden werden, „die als natürliche oder juristische Personen, als nicht-organisierte Gruppen oder als öffentlich-rechtlich verfasste Akteure auftreten.“ (Seebacher, Alcántara & Quint 2018: 155) Außerwissenschaftliche Akteure, die als Praxisakteure und als Praxispartner*innen aufgefasst werden können, werden unterschiedlichen Kontexten zugerechnet. Diese Akteure sind vorzufinden in der „organisierte[n] Zivilgesellschaft, lokale[n] Gemeinschaft, (...) Verwaltung, [in] Wirtschaftsunternehmen, Politik, Kultur, Bildung“ (Seebacher, Alcántara & Quint 2018: 157 nach Arnold und Piontek 2018: 148).

Diese Typisierung sollte verstanden werden als grober Überbau einer Akteurskonstellation, welche eine weitere Feineinteilung der Akteure zulässt. Der jeweilige Akteurstypus kann „als eine Menge aus einzelnen Akteuren“ (ebd.) angesehen werden, welche sich dadurch auszeichnet, einem übergeordneten Merkmal zu entsprechen.

Reallabore bilden eine Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis. Zu Akteuren, die eher langfristig in den Forschungsprozess eingebunden sind, zählen z. B. Mitglieder der Verwaltung, große zivilgesellschaftliche Gruppen und festangestellte Wissenschaftler*innen. Einzelne Projekte transdisziplinären Charakters dagegen weisen eine niedrige Eintrittsschwelle auf und erfordern nur eine punktuelle Beteiligung.

Die wissenschaftlichen Akteure befassen sich damit, „[zu] forschen, Prozesse anzustoßen und zu moderieren (‚Facilitator‘), Expertise einzubringen und Ergebnisse zu analysieren und zu reflektieren.“ (Beecroft et al. 2018: 90) Des Weiteren kann ihnen die Aufgabe zukommen, [für] eine Idee zu werben, das Reallabor öffentlich zu vertreten oder das eigene Handeln als Teil des Transformationsprozesses zu reflektieren.“ (ebd.)

Die vordergründige Aufgabe der Praxispartner*innen liegt darin, „lebensweltliche Problemlagen zu identifizieren, die eine Bearbeitung im Reallabor erfahren sollen“ (ebd.). Zudem sind sie „Träger von unverzichtbarem Praxiswissen (z. B. implizites oder lokales Wissen), […] Multiplikatoren und gegebenenfalls […] langfristige Träger der Ergebnisse, nachdem in einem Reallabor die Bearbeitung eines Themas abgeschlossen wurde“ (ebd.). Die Praxis-Akteure können auch als Co-Forschende in den Forschungsprozess einbezogen werden, „um transdisziplinäre Projekte mitzuplanen (Co-Design) und durchzuführen sowie Ergebnisse auszuwerten und zu integrieren [(Co-Evaluation)].“ (ebd.)

Die Akteurskonstellation eines Reallabors kann anhand eines 3-Kreise-Modells idealisiert dargestellt werden. Dabei befinden sich alle an einem Reallabor beteiligten Akteure in einem der drei Kreise. Innerhalb des Kernbereichs eines Reallabors befinden sich diejenigen Akteure, die Verantwortung für die „Konzeption, inhaltliche Kohärenz, Prozessgestaltung und organisatorische Steuerung“ (ebd.) übernehmen. Idealerweise befinden sich darin neben Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen auch außerwissenschaftliche Akteure.

Beim inneren (Akteurs-)Kreis handelt es sich um den Ort, „an dem vor allem von und mit den Praxispartnern besonders intensiv experimentiert wird.“ (ebd.) Jene Akteure wirken über eine längere Zeitspanne „hinweg kontinuierlich, intensiv und unter größerem Ressourceneinsatz (Zeit, Geld, Material)“ (ebd.) am Reallaborprozess mit. Um die Sonderstellung der Praxis-Akteure zu verdeutlichen, werden diese aufgrund ihrer engen Kooperation mit den Reallaboren in einigen BaWü-Labs auch als Praxispartner*innen bezeichnet.

Im äußeren Kreis des Modells befinden sich jene Akteure, die sich an den Reallaboraktivitäten punktuell beteiligen. Dieser äußere Akteurskreis umfasst all jene Akteure, die sich auf eine diskontinuierliche, anlassbezogene Mitarbeit beschränken und über eine kürzere Zeitspanne und/oder „mit geringerem Ressourceneinsatz in die Reallaborarbeit einbringen“(ebd.).

Das 3-Kreise-Modell kann aufgeteilt werden in verschiedene Sektoren, welche im Idealfall über alle Kreise hinweg bestehen. Die Kreise sind dadurch gekennzeichnet, dass sie über durchlässige Grenzen verfügen und Fluktuation, auch sektorübergreifend, zulassen. (vgl. Seebacher, Alcántara & Quint 2018: 155) Im Idealfall befinden sich im Sinne des Co-Designs, der Co-Produktion und Co-Evaluation in allen drei Kreisen Akteure aus relevanten Kontexten. Reallabore fordern und fördern so auch die „Partizipation bei der Gestaltung transformativer Prozesse“ (Seebacher, Alcántara & Quint 2018: 158).

Die Akteure eines Reallabors unterscheiden sich nach dem Grad ihres Mitwirkens und ihrer Mitarbeit, „beispielsweise hinsichtlich des Personalaufwandes, der Intensität und Dauer der Mitwirkung oder der Menge an Detailwissen“ (ebd.). Unabhängig vom Grad der Beteiligung einzelner Akteure entsteht ein Netzwerk, das einem quasi-institutionellem Ensemble nahekommt, welches in der Öffentlichkeit auftritt wie ein Akteur.

Ziele eines Reallabors – Forschungs-, Praxis- und Bildungsziele

Das Forschungsformat Reallabor wird im wissenschaftlichen Diskurs bezüglich Definition und Aufbau, Ziele und Methoden kontrovers behandelt. Dies wird durch die noch junge und wenig beschriebene Forschungslandschaft der Reallabore, aber auch durch deren transdisziplinären und transformativen Anspruch, die bestehende Lücke, die sich in Forschung und Praxis auftut, und den sich vollziehenden Wandel innerhalb der wissenschaftlichen Forschung verdeutlicht.

Der transformative und transdisziplinäre Charakter eines Reallabors zeichnet sich dadurch aus, dass die drei Zieldimensionen Forschungs-, Praxis- und Bildungsziele erreicht werden können. Diese werden im Folgenden näher beleuchtet.

Forschungsziele eines Reallabors

Die Forschungsziele eines Reallabors sind darauf ausgelegt, „das Erzeugen von Wissen zu unterstützen, Wissen zu sammeln und zu integrieren sowie seine Qualität zu bewerten.“ (Beecroft et al. 2018: 79) Hierbei ist solches Wissen von Bedeutung, das aus Transformationsprozessen generiert wird und für Transformationsprozesse genutzt werden kann. Dieses Wissen kann in Zielwissen, Systemwissen und Transformationswissen unterteilt werden. (vgl. CASS und ProClim 1997)

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Aufgabe der Wissenschaft, "Wissensgrundlagen über natürliche und gesellschaftliche Faktoren und Prozesse und ihre Verflechtung bereitzustellen“ (CASS und ProClim- 1997: 15), sowie „den öffentlichen Diskurs über Werte und Ziele zukünftiger Entwicklungen an[zu]regen.“ (ebd.). Drei Wissensarten sind hierzu erforderlich:
  • „Wissen darüber, was ist: Systemwissen über Strukturen und Prozesse, Variabilität usw.
  • Wissen darüber, was sein und was nicht sein soll: Zielwissen, d.h. Bewertung von Ist-Zustand, Prognosen und Szenarien; Generierung von Grenzwerten, >Leitbildern<, ethischen Rahmenbedingungen, Visionen.
  • Wissen darüber, wie wir vom Ist-Zustand zum Soll-Zustand gelangen: Transformationswissen, d.h. Erarbeitung von Wissen darüber, wie der Übergang vom Ist- zum Soll-Zustand gestaltet und umgesetzt werden kann.“ (CASS und ProClim- 1997: 15)
Reallabore stellen ein Forschungsformat der transformativen Forschung dar, das neben transdisziplinären auch interdisziplinäre Arbeitsweisen ermöglicht. Interdisziplinarität ist notwendig, damit eine Integration verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen erreicht werden kann. Dies führt dazu, dass der Forschungsgenstand möglichst umfangreich beschrieben werden kann. Hierzu wird die Problemstellung, der Bezugsraum und die Akteurskonstellation interdisziplinär beschrieben. Anhand dessen können übertragbare und fallspezifische Aspekte unterscheiden werden.

Transdisziplinarität ermöglicht, wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Perspektiven in einen Transformationsprozess einzubringen. Durch diese zweiteilige Integration wird die gesellschaftliche Bedeutung des bearbeiteten Forschungsgegenstandes und eine kritische Auseinandersetzung gesichert. Praxisakteure verfügen während des Forschungsprozesses über ein Partizipationsvermögen und können Entscheidungen darüber treffen, „was experimentell neu erschlossen wird, welche Transformationsprozesse angestoßen oder bearbeitet werden, wie das Wissen integriert wird und wie mit normativen Fragen umgegangen werden soll.“ (ebd.) (vgl. Beecroft et al. 2018: 80)

Praxisziele eines Reallabors

Die durch das Reallabor verfolgten Praxisziele dienen dazu, „Transformationsprozesse anzustoßen, zu fördern und mitzugestalten.“ (ebd.) Auf der Grundlage der BaWü-Labs basierend, welche Nachhaltigkeitstransformationen im Blick haben, können fünf Praxisziele unterschieden werden:
  • Nachhaltigkeitstransformationen anstoßen und dabei unerwünschte Folgen erkennen und vermeiden (Transformationsziel)
  • Ergebnisse auf andere Transformationsprozesse übertragen (Transfer- und Upscaling-Ziel)
  • Kultur der Nachhaltigkeit im Umfeld des Reallabors fördern (Kulturziel)
  • Kooperation der Akteure stabilisieren (Kooperationsziel)
  • Empowerment der Akteure aus der Praxis anstreben (Empowerment-Ziel)“ (ebd.)
Die beiden erstgenannten Ziele betreffen „vornehmlich transdisziplinäre Projekte in einem Reallabor, die letzten drei betreffen gleichermaßen ein Reallabor als Ganzes.“ (ebd.)

Beim ersten Praxisziel handelt es sich um konkrete Transformationsprozesse, eine nachhaltige Entwicklung zu initiieren und zu begleiten. Dabei kann es sich um eine große Bandbreite an Möglichkeiten, „etwa Veränderungen einer Infrastruktur, (mikro-)ökonomischer Strukturen oder des sozialen Zusammenlebens“ (ebd.) handeln. Zudem wird angestrebt, nicht-intendierte Folgen zu vermeiden.

Mit dem zweiten Praxisziel wird die Übertragung der Forschungsergebnisse auf andere geografische Räume, wie beispielsweise Regionen, oder auf einen gesellschaftlichen Kontext (Transfer) verstanden. Zudem betrifft das Praxisziel „eine gesellschaftliche und politische Anschlussfähigkeit der Ergebnisse für weiterreichende Entscheidungen (upscaling).“ (ebd.)

Da Reallabore gestaltend und verändernd wirken, dient das dritte Praxisziel der Förderung einer gelebten ‚Kultur der Nachhaltigkeit‘. Es findet eine räumliche und zeitliche Eingrenzung lebensweltlicher bzw. realweltlicher Themen oder Fragestellungen statt. Reallabore fördern so als Brückenkonzept das Verständnis zwischen spezifischer Praxis mit konkreten Themen und Fragestellungen und das globale und abstrakte Verständnis einer Nachhaltigen Entwicklung. Dies ermöglicht „eine tiefergehende Identifikation mit Nachhaltiger Entwicklung und den Wandel von Handlungsweisen, Governancestrukturen und Lebensstilen.“ (Beecroft et al. 2018: 81) Daraus kann ein Austausch verschiedenster Nachhaltigkeitsperspektiven resultieren. (vgl. ebd. nach Grunwald 2016)

Das vierte Praxisziel zielt darauf ab, eine enge und vertrauensvolle Kooperation zwischen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Akteuren herzustellen. Die Zusammenarbeit in Reallaboren zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf Augenhöhe stattfindet. Das Erreichen einer vertrauensvollen und gelingenden Kooperation wird nicht nur als Praxisziel angesehen, sondern gilt zugleich für das erfolgreiche Erreichen der Zieldimensionen Forschungs- und Bildungsziele.

Das fünfte Praxisziel verfolgt das Empowerment aller beteiligten Akteure. Dabei werden Information und Konsultation als „Voraussetzungen für eine intensivere Kooperation und letztlich für Empowerment“ (Beecroft et al. 2018: 82) angesehen. Damit soll erreicht werden, dass die am Forschungsprozess beteiligten Akteure über den gesamten Projektverlauf aktiv an Transformationsprozessen partizipieren können.

Reallabore, die sich nicht primär an Nachhaltiger Entwicklung orientieren, verfolgen differenzierende Praxisziele. (Beecroft et al. 2018: 80ff.)

Bildungsziele eines Reallabors

Die in einem Reallabor angestoßenen und begleiteten Transformationsprozesse erfordern in aller Regel auch eine veränderte Lebensweise Einzelner, veränderte „Rahmenbedingungen und Entscheidungsstrukturen auf allen Ebenen und Verschiebungen in gesellschaftlichen Wertesystemen.“ (ebd.) Die damit verbundenen individuellen und gesellschaftlichen Lernprozesse, sollen das Lernen nicht als Verpflichtung der einzelnen Akteure, sondern als inhärenten Teil eines Transformationsprozesses verstehen.

Reallabore verstehen sich in diesem Zusammenhang nicht als „(formelles oder informelles) Bildungsangebot“ (Beecroft et al. 2018: 83), sondern können aufgefasst werden als Lernumgebung, welche „einen unterstützenden, geschützten Rahmen für Information, Austausch, Kooperation, Interventionen sowie Evaluation und Reflexion“ (ebd.) bietet.

Bildungsziele sind somit integraler Bestandteil der Reallabore, da sie selbst lernfähige und flexible Systeme sein müssen, Transformationsprozesse experimentell-reflexiv gründlich durchdacht und durchdrungen werden müssen und auf der Suche nach Transformationswegen einen gesellschaftlichen Lernprozess durchlaufen. (vgl. Beecroft et al. 2018: 82f.)

Designprinzipien eines Reallabors

Damit Reallabore ihr volles Potenzial nutzen können, muss auf ein durchdachtes Forschungsdesign zurückgegriffen werden können. Die folgenden fünf Designprinzipien nach Beecroft et al. (2018) können einen optimalen Rahmen für ein Reallabor bilden. Die für ein Reallabor spezifischen hier vorgestellten Designprinzipien werden ergänzt durch allgemeine Designprinzipien des Forschungs- und Praxiskontextes, welche hier nicht näher vorgestellt werden.

Problem- und Themenangemessenheit

Ein Reallabor kann dazu beitragen, exemplarisch relevante transformationsbezogene Fragestellungen zu bearbeiten. Die daraus resultierenden übergeordneten Ergebnisse können für ähnliche Problemstellungen genutzt werden. Schon bei der Initiierung eines Reallabors wird in der Regel die übergeordnete Themenstellung vorgezeichnet. Hierzu werden insbesondere transdisziplinäre Projekte herangezogen, um thematische Schwerpunkte zwischen Wissenschaft und Praxis festzulegen. Ein gemeinsamer Verständigungsprozess zwischen den beteiligten Akteuren führt zur Klärung über Begriffe, Zielstellungen und Methoden.

Bei der Auswahl der Themenstellung ist die Eingrenzung der Fragestellung von Relevanz für die beteiligten Akteure. Zudem sollten Forschungs-, Praxis- und Bildungsziele gleichermaßen berücksichtigt werden. Die häufig unterschiedlichen Erwartungen der beteiligten Akteure in Bezug auf die Zielsetzung eines Reallabors sollten schon zu Beginn transparent gemacht und überprüft werden, inwiefern diese realisierbar sind. Aus der thematischen Ausgestaltung sollte hervorgehen, in welchen Kontext das Reallabor gesetzt wird. 

Räumliche Angemessenheit gestalten

Damit ein Reallabor eingerichtet werden kann, wird ein geeigneter Bezugsraum benötigt. Eine erfolgreiche Arbeits- und Kommunikationsfähigkeit innerhalb eines Reallabors setzt voraus, dass der Bezugsraum von den beteiligten Akteuren anerkannt und geteilt wird. Neben funktionalen, naturräumlichen oder administrativen Kriterien ist zudem für die Akzeptanz des Bezugsraums wichtig, dass Praxispartner*innen an die individuellen Raumerfahrungen anknüpfen können „und sich damit auf Räume […] beziehen, die auch ausreichend Identifikation bieten“ (Beecroft et al. 2018: 87 nach Weichhart 2008).

Ein angemessener Bezugsraum steht mit Initiierung nicht unveränderlich fest, sondern wird „im Austausch zwischen den Akteuren definiert und im Verlauf überprüft“ (ebd.). Konnte der Bezugsraum eines Reallabors endgültig festgelegt werden, so kann dadurch die Identifikation mit einem Reallabor verstärkt werden, beispielsweise durch ein zugängliches und sichtbares Quartiersbüro.

Zeitliche Angemessenheit herstellen

Die Zeitspanne der Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis ist von großer Bedeutung. Aspekte wie unterschiedliche Zeitrhythmen der Akteure, ein notwendiger flexibler Zeitrahmen und eine ausreichend lange Projektzeitspanne sind wichtige Parameter für ein erfolgreiches Realexperiment. Für unvorhersehbare Entwicklungen sollten ausreichende Pufferzeiten und flexible Zeitkorridore eingeplant werden. Zudem bauen die netzwerkartigen Akteurskonstellationen zwischen Wissenschaft und Praxispartner*innen auf Vertrauen, gemeinsamen Wertorientierungen und tragfähigen Arbeitsbeziehungen auf, was Zeit erfordert.

Angemessene Akteursrollen etablieren

Die Annäherung von Rollen, die Akteure innehaben, ist nicht immer einfach zu beschreiten. Die Rollenfindung ist neben dem Ressourceneinsatz (Zeit, Geld, Material) von der Überwindung, eingespielte Rollen zu verlassen, unerwarteten Rollenanforderungen und anstrengenden Aushandlungsprozessen, abhängig. Zudem gibt es Herausforderungen aufgrund der „Grenzziehung zwischen bezahlter Arbeit […] gegenüber zivilgesellschaftlichem Ehrenamt und der Arbeit von Studierenden“ (Beecroft et al. 2018: 91). Ebenso birgt der Aufbau und die Pflege der Infrastruktur Konfliktpotenzial.

Neben der Rollenfindung in einem Reallabor werden auch gänzlich neue Rollen für jene geschaffen, die „sich bereits mit einem Erkenntnisinteresse in Transformationsprozessen engagieren.“ (ebd.) Ein Reallabor bietet sich dazu an, „Engagement, wissenschaftliche Haltung und Lernbereitschaft […] [zu] kombinieren.“ (ebd.)

Experimentell-reflexive Arbeitsweise fördern

Die Arbeitsweise eines Reallabors zeichnet sich durch einen zweiteiligen Charakter aus. Reallabore stellen einen Rahmen für experimentelles Vorgehen dar, was insbesondere durch Realexperimente als Intervention umgesetzt wird. Anhand dessen werden Transformationsprozesse analysiert und erprobt. Zudem dienen Reallabore der „systematischen Reflexion der transdisziplinären Prozesse, der Zusammenarbeit und der Ergebnisse.“ (Beecroft et al. 2018: 92)

Daraus ergeben sich vielfältige Vorteile. Aus der experimentellen Arbeitsweise lassen sich Erfahrungen sammeln, Daten erzeugen und praktische Wirkungen anstoßen. Die reflexive Arbeitsweise dient der „Überprüfung und Integration des gewonnenen Wissens, aber auch dem Überdenken der eigenen Rolle und dem Hinterfragen eigener grundlegender Überzeugungen der beteiligten Akteure aus Wissenschaft und Praxis.“ (ebd.)

Dabei können aber nicht nur wissenschaftliche und praktische Diskurse aufgenommen und umgesetzt werden, sondern auch ein Reallabor selbst verändert werden. Reallabore lassen sich während des Forschungsprozesses in ihrer thematischen, räumlichen, zeitlichen und akteursbezogenen Angemessenheit anpassen, können ihren Zielhorizont aus Forschungs-, Praxis- und Bildungszielen aktualisieren und Zielkonflikte neu bearbeiten, Wissensbestände integrieren, Erfahrungen aus anderen transdisziplinären Projekten aufgreifen, Methoden adaptieren, entwickeln und testen, sowie fortlaufend Kompetenzen bei Akteuren aufbauen.

Die experimentell-reflexive Arbeitsweise kann als emanzipatorisches Lernen nutzbar gemacht werden, indem bei beteiligte Akteuren Problemlösefähigkeiten entwickelt und erprobt werden. Somit kann ein Lernprozess dadurch angestoßen werden, dass die Akteure ihre selbst erprobten Lösungsansätze einer Reflexion und Bewertung unterziehen. Idealerweise kann das erworbene Wissen in anderen Kontexten verwendet und ein Reallabor so zu einer lernenden Organisation werden. (vgl. Beecroft et al. 2018: 92f.)

Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur (RNM)

Das Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur (RNM) ist eines von vierzehn vom baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst geförderten Reallabore. Hierbei wurde der thematische Fokus auf die nachhaltige Mobilität in Stuttgart gelegt. Das Reallabor zielt darauf ab, eine ressourcenschonende und gesundheitsfördernde Kultur der Bewegung in den Blick zu nehmen, sozialen Austausch zu fördern, neue Lebens- und Aufenthaltsorte in der Stadt zu schaffen sowie eine nachhaltige Mobilitätskultur zu etablieren.

Es wurden verschiedenste Realexperimente wie Parklets, die Stäffele-Galerie, rotierende Lastenräder, Bürger-Rikschas sowie die Mobilitätsschule erprobt und umgesetzt. Die Implementierung des Reallabors hatte zum Ziel, Visionen, Denkanstöße und konkrete Projekte zu ermöglichen und so verschiedenste Akteure zusammenzubringen. (RNM 2018: 17ff.) Eine konkrete Umsetzung des Reallabors stellen Parklets für Stuttgart dar.

Als Parklets werden öffentliche Aufenthaltsorte bezeichnet, die auf Auto-Stellplätzen und Fußwegen entstehen. Das Konzept thematisiert im öffentlichen Raum parkende Autos und stellt diese in Frage. Im Sommer 2016 wurden im Zuge des Reallabors für nachhaltige Mobilitätskultur elf Parklets in Stuttgarter Stadteilen errichtet. Bei den Interventionen kam es zu einer breiten Variation an gestalterischer Umsetzung.

Die Realexperimente reichten „von Sitzgelegenheiten über Spielplätze oder Urban-Gardening-Flächen bis hin zu Stellplätzen und Ladestationen für Fahrräder“ (RNM 2018: 67). Die Parklets etablierten sich als Treffpunkte, um Bekannte zu treffen und Unbekannten zu begegnen. Die öffentlichen Räume wurden so konzipiert, dass sie von unterschiedlichsten Gruppen genutzt werden konnten.

Die Implementierung der Parklets führte zu einer Irritation der Raumwahrnehmung und sollte das Bewusstsein der Bürger*innen verändern, indem alternative Nutzungskonzepte des öffentlichen Raums aufgezeigt wurden. (vgl. RNM 2018: 67ff.)

Resümee – Transformationsprozesse by design

Das Forschungsformat Reallabor zeigt neue Wege in der Nachhaltigkeitsforschung auf. Eine Beteiligung verschiedenster Akteure von Beginn des Forschungsprozesses an ermöglicht eine Verschränkung von Wissenschaftler*innen und Praxispartner*innen. Durch die Partizipationsmöglichkeiten können interessierte und engagierte Akteure aktiv und konkret an einer Wissensgenerierung und Wissensanwendung teilnehmen.

Das Forschungsformat Reallabor stellt eine methodische Erweiterung klassischer Forschung dar und kann neue Anstöße für die Wissenschaftslandschaft aber auch Nachhaltigkeitsforschung geben. Die realweltlich angelegten Realexperimente bieten neue Chancen und Potenziale, ein Verständnis für komplexe gesellschaftliche Transformationsprozesse anzustoßen. Dazu bedarf das Forschungsformat Reallabor als Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung in den nächsten Jahren einer kontinuierlichen Weiterentwickelung, um verstärkt Eingang in gesellschaftliche und wissenschaftliche Kontexte zu finden.

Literaturverzeichnis
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