In der ostwestfälischen Provinz Höxter setzen Unternehmer und Kommunalpolitiker sich aktiv für eine neue Form der Ökonomie ein. Dieser Wandel wurde initiiert, als der Apotheker Albrecht Binder dem Bürgermeister seiner Stadt das Buch "Gemeinwohlökonomie" von Christian Felber übergab. Christian Felber präsentiert in seinem Buch ein zukunftsweisendes Wirtschaftsmodell, das den Fokus von reinen Profiten auf das Wohlergehen aller Menschen legt. Es handelt sich um eine ethische Marktwirtschaft, die auf Kooperation statt Wettbewerb, Nachhaltigkeit statt Ausbeutung setzt.
Apotheker Binder setzt diese Vorstellungen bereits in seiner Apotheke um. Sieben Monate nach der Lektüre von Felbers Buch legte er die erste Gemeinwohl-Bilanz für seine Apotheke und drei Filialen vor. Dabei wurden Fragen zur ethischen Ausrichtung beantwortet, wie beispielsweise, ob Firmengelder bei einer Ethikbank angelegt sind oder wie umweltfreundlich die Angestellten zur Arbeit gelangen.
Im Mittelpunkt steht nicht der Umsatz und Gewinn, sondern unternehmerisches Handeln wird an Werten wie Menschenwürde, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitspracherechten für die Angestellten gemessen. Ein Auditor überprüft diesen Bericht und vergibt Punkte.
Binder erreichte in der Bewertung 439 Punkte auf einer Skala von -3600 bis 1000. Diese positive Bewertung zeigt, dass er bereits erfolgreiche Schritte in Richtung einer nachhaltigen und sozial verantwortlichen Marktwirtschaft unternommen hat. Dazu gehören Maßnahmen wie die Verwendung eines Elektrofahrrads für Botenfahrten, kein Zeitarbeitspersonal oder die Nutzung von Recycling-Papier im Drucker.
Als der österreichische Tänzer und Aktivist Christian Felber im Jahr 2010 seine Vorstellung einer Gemeinwohl-Ökonomie veröffentlichte, stieß diese Idee in kapitalismuskritischen Kreisen auf breite Zustimmung. Im Gegensatz dazu ignorierten Ökonomen an Universitäten und Unternehmer in Industrieverbänden das Konzept oft oder bezeichneten es als "weltfremd". Die Reaktionen beider Seiten sind nachvollziehbar.
Die globale Finanzkrise zwei Jahre zuvor hatte enthüllt, dass das bestehende System die Weltwirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs bringen kann. Infolgedessen rief Felber eine Bewegung ins Leben, die darauf abzielte, die Wirtschaft von unten zu verändern. Bis heute unterstützen mehrere tausend Unternehmen seinen Aufruf, auch wenn berechtigterweise darauf hingewiesen wurde, dass der Grad der Gemeinwohl-Orientierung schwer zu messen ist und eine derartige Bilanz anfällig für Missbrauch als Marketinginstrument sein kann.
Die Kritik der Ökonomen konzentriert sich auf Felbers Anspruch, dass die Gemeinwohl-Ökonomie ein alternatives Wirtschaftsmodell sei. Diese behauptet nicht nur, Fairness und Nachhaltigkeit auf betriebswirtschaftlicher Ebene zu fördern, sondern die gesamte Volkswirtschaft zu revolutionieren. Einige fragen, warum Unternehmen ohne die Aussicht auf Gewinn das Risiko eingehen sollten zu investieren. Auch wird bezweifelt, dass sie ohne Konkurrenzdruck davon abgehalten werden, überhöhte Preise für ihre Güter zu verlangen. Wirtschaftswissenschaftler argumentieren, dass Felber möglicherweise nicht erkennt, wie grundlegend der Wettbewerb in unserer Wirtschaftsordnung ist, auch um Unternehmen in ihre Schranken zu weisen.
Ökonom Binswanger äußerte sich gegenüber dem Deutschlandfunk kritisch zur Gemeinwohl-Ökonomie und sagte, dass sie nur in Nischen existiere und letztendlich davon abhängig sei, dass der Rest der Wirtschaft gut funktioniere und ausreichende Einnahmen generiere, damit Menschen die Produkte von Gemeinwohl-Betrieben kaufen könnten. Sie sei somit eine gelebte Kritik am Kapitalismus, jedoch keine wirkliche Alternative dazu.
Im Kreis Höxter wird die Gemeinwohl-Ökonomie unterschiedlich interpretiert – als schillernde Zukunftsvision für Idealisten, als Anleitung zur Organisationsentwicklung für Unternehmer oder als schickes Marketing für Kommunen. Vielleicht löst sie tatsächlich Veränderungen aus, motiviert Unternehmer zu ökologischer und ethischer Verantwortung oder spornt Ökonomen an, alternative Wirtschaftsmodelle zu erforschen. Möglicherweise beginnt ein solcher Wandel tatsächlich hier, in der ostwestfälischen Provinz, inspiriert durch ein gelbes Buch, Kopfstände und Biomilch.
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