Montag, 29. Januar 2018

Bhutan - Kleines Land, großes Vorbild?

Die meisten Staaten dieser Welt richten ihre Politik am Wirtschaftswachstum, gemessen durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP), aus. Demnach müsste in Ländern mit einem hohen BIP der Wohlstand besonders groß sein und die Menschen besonders glücklich. Wie der World Happiness Report der UNO von 2017 aber zeigt, sind die Menschen in China nicht glücklicher als 1990, und das, obwohl sich seitdem das BIP verfünffacht hat. Kann das BIP also gar keine Aussage zum Wohlstand und Glück in einem Land machen?

Das Land des Donnerdrachens hat sich genau dieser Frage schon vor vielen Jahren gestellt und richtet seine Politik seither am größtmöglichen Bruttonationalglück (Gross National Happiness – GNH) aus. Immer öfter richtet sich der Blick auf das kleine Land mit der Frage, ob das Bruttonationalglück nicht der bessere Maßstab sei.

Denn mehr und mehr wird klar, dass unsere Ressourcen auf der Erde begrenzt sind und unbegrenztes Wirtschaftswachstum nicht möglich ist. Die Begrenztheit unserer Ressourcen erfahren wir immer mehr und die Menschheit hat längst schon Grenzen überschritten. Das zeigt sich im Klimawandel, mit seinen zunehmenden Naturkatastrophen, die negative Folgen für viele Menschen weltweit haben. Unsere Konsumgesellschaft ist nicht nachhaltig und respektiert diese Grenzen nicht.

Bhutan scheint frühzeitig begriffen zu haben, was westliche Demokratien erst langsam durch Finanzkrisen, Umweltkatastrophen und soziale Ungleichheit zu begreifen scheinen. Können westliche Demokratien hier etwas lernen? Lebt Bhutan einen Weg vor, der auch für andere Länder erstrebenswert sein könnte?


Ein paar Fakten zu Bhutan

Um die Philosophie des Bruttonationalglücks verstehen zu lernen, muss man erst einmal einen Blick auf den Weg dorthin werfen. Den Weg dorthin bahnte der König Jigme Singye Wangchuck, der 1972 den Thron bestieg. Zu dem Zeitpunkt war das Land noch weitestgehend vom Rest der Welt abgeschottet, und die Menschen lebten der buddhistischen Tradition verpflichtet.

Da es in großen Teilen im Himalaya liegt, ist es nur schwer zugänglich. Im Norden grenzt es an China, im Süden an Indien und ist nur etwa so groß wie die Schweiz. Allerdings mit deutlich weniger Einwohnern. Nur 700.000, um genau zu sein. Bis 1959 hatten noch viele Menschen in Leibeigenschaft gelebt, und es wurde Tauschhandel betrieben.

Insgesamt war das Land zu diesem Zeitpunkt also sehr weit vom Entwicklungsstand anderer Länder entfernt. Aber anstatt mit raschen Schritten in die Zukunft zu gehen, wie in China oder Indien geschehen, entschied sich der König für eine langsame Öffnung. Er hatte gesehen, wie in den beiden Nachbarländern die Schere zwischen Arm und Reich riesig geworden war und viele Menschen von der raschen Entwicklung abgehängt waren. Er ahnte, dass die Menschen sich sonst auch anfangen würden zu vergleichen, was sie unglücklich machen würde. Sie würden sehen, was sie nicht haben, statt wertzuschätzen, was sie haben.

Deswegen ließ sich das Land Zeit und erst 1999 kam das Fernsehen ins Land, dann 2004 das Mobiltelefon. Der König setzte seiner Politik vier Leitziele: 
  • Bewahren und Fördern der Kultur 
  • Leben im Einklang mit der Natur 
  • Gerechte Wirtschaftsentwicklung 
  • Gutes Regieren
Alle politischen Entscheidungen sollten diesen Leitzielen unterliegen. Bis zum Bruttonationalglück war es da noch ein weiter Weg.

Politisch entwickelte sich das Land von einer Monarchie zu einer konstitutionellen Monarchie. Dabei gab es keine blutige Revolution, sondern der König dankte 2005 einfach ab und übergab die Krone seinem Sohn, der das Land in die Demokratie führte. 2007 wurde es erlaubt, Parteien zu gründen, und die Verfassung des Landes trat in Kraft. In dieser Verfassung wurde das Ziel, politische Entscheidungen im Einklang mit dem Bruttonationalglück zu fällen, festgesetzt.

2008 wurde dann schließlich das erste Parlament gewählt. Allerdings wurde auch hier nichts dem Zufall überlassen, sondern die Menschen zuvor geschult, um demokratische Regeln zu lernen. Kurz darauf wurde dann die erste große Befragung im Land durchgeführt, um das Glück der Bevölkerung zu erfassen. Seitdem findet diese Befragung alle zwei Jahre statt und ist leitend für politische Entscheidungen im Land. Manchmal werden sogar Entscheidungen auf der Grundlage der Fragebögen revidiert. Beispielsweise der autofreie Tag, der den Menschen nicht so zusagte.

Eine sehr wichtige politische Instanz ist die GNH-Kommission, die jede Entscheidung der Regierung auf ihre Kompatibilität mit dem GNH prüft. Es wird zum Beispiel geprüft, ob eine für die Wirtschaft positive Entscheidung vielleicht negative Auswirkungen auf die Umwelt oder die Menschen hat. Ist dies der Fall, muss die Regierung den Vorschlag eventuell überarbeiten oder sogar verwerfen. Die Idee zum Beitritt zur WTO wurde beispielsweise verworfen, weil die Kommission dagegen war.

Wirtschaftlich lebt das Land heute von der Stromproduktion aus Wasserkraft für den großen Nachbarn Indien und vom sanften Ökotourismus. Die meisten Menschen sind noch traditionell in der Landwirtschaft tätig.

Wie funktioniert Bruttonationalglück?

Es sei gleich vorweggenommen, dass das Bruttonationalglück (englisch Gross National Happiness - GNH) nicht einfach alle Menschen glücklich machen kann. Aber das GNH kann die Voraussetzungen schaffen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, glücklich zu sein. Ein ganzes Zentrum beschäftigt sich tagtäglich nur mit dem Bruttonationalglück, führt die Befragungen durch und wertet sie aus.
Der Fragebogen gründet auf den vier Säulen, auf denen auch die Politik ruht:
  • Eine gerechte und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft
  • Der Schutz der natürlichen Umwelt und die Stärkung ihrer Widerstandsfähigkeit
  • Die Bewahrung und Förderung traditioneller, kultureller Werte der Menschen
  • Die Förderung einer guten Regierungsführung bzw. Leitung eines Unternehmens
Auf Grundlage dieser vier Säulen gibt es 124 Variablen, die statistisch abgebildet werden können. Um zu messen, wie nah die Menschen ihrem Glück sind, gibt es nochmal 33 Indikatoren zu vier Themenfeldern, die auf den vier Säulen aufbauen.

Konkret deckt die Umfrage die Bereiche physisches und psychisches Wohlbefinden ab, die Nutzung der Zeit, die Bildung, die Erziehung, die kulturelle Vitalität und Vielfalt, das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gemeinschaft, ökologische Lebensfähigkeit und Vielfalt der Arten, ebenso wie den allgemeinen Lebensstandard. Dazu wird dann auch noch die Zufriedenheit mit politischen Entscheidungen abgefragt. Ein sehr umfassendes Bild entsteht dadurch über die Lebenslage der Menschen.

Einer der wichtigsten Punkte, der mit 13 % gewichtet wird, ist die Verwendung der Zeit. Dabei gilt als Idealvorstellung acht Stunden Arbeiten, acht Stunden Freizeit und acht Stunden schlafen. Zeit zu haben für die Dinge, die einem im Leben wichtig sind, scheint demnach elementar. Dass Dauerstress und Zeitdruck unglücklich und krank machen, zeigt sich auch schon zur Genüge in westlichen Gesellschaften. Dies führt, vor allem in größeren Städten, zu Vereinsamung. Dabei ist Zeit für andere Menschen zu geben und mit ihnen zu verbringen, unglaublich wichtig. Nach dem GNH wird der Beitrag zur Gemeinschaft als ausreichend bewertet, wenn die Menschen 10 % von ihrem Einkommen oder ihrer Zeit anderen zur Verfügung stellen.

Um dauerhaft glücklich zu sein, müssen nach der Philosophie des Nationalglücks drei Entfremdungen überwunden werden. Zum einen geht es dabei um die Entfremdung von unseren Mitmenschen, da jeder nur noch egoistisch an sich denkt und nicht daran, wie alle zufrieden sein können. Solang andere wegen uns leiden, können auch wir nicht vollkommen glücklich sein.

Ein ganz entscheidender Punkt ist die Entfremdung von der Natur, die wir auch in der westlichen Welt zunehmend erleben. Wir haben die Anbindung zu „Mutter Erde“ verloren, sie ist eine Ware, von der wir nehmen, was wir brauchen, ohne Rücksicht.

Der dritte Punkt ist die offensichtliche Entfremdung von uns selbst, nicht mehr zu wissen, wer wir wirklich sind und was wir wirklich brauchen. Nicht im materiellen Befriedigung zu suchen, sondern tief in unserem Inneren zu wissen, was uns wirklich zufrieden und glücklich macht.

Nach der GNH-Philosophie kann jeder durch Überwindung dieser Entfremdungen glücklich werden. Glück ist eine Kompetenz, die erworben und geschult werden kann, sowohl individuell als auch kollektiv. Allerdings ist glücklich sein erst möglich, wenn die Elementarbedürfnisse befriedigt sind. Dazu zählen das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Nahrung und Trinken, nach Kleidung und Obdach. Diese Voraussetzungen kann der Staat schaffen, damit die Menschen die Basis haben, um glücklich zu sein. In Bhutan ist man allerdings nicht dabei stehengeblieben und hat noch darüber hinaus Maßnahmen ergriffen. Der König definiert das Bruttonationalglück so:
Für die Menschen in Bhutan […] ist GNH die Brücke, die den Bogen schlägt zwischen unseren fundamentalen Werten wie Güte, Gleichheit und Humanität sowie der Notwendigkeit des ökonomischen Wachsens. GNH ist unser Nationalgewissen, das uns weise entscheiden lässt, damit die Zukunft besser wird.
Dies zeigt auch, dass das GNH Wirtschaftswachstum nicht grundsätzlich in Frage stellt, aber versucht, es in Einklang zu bringen mit den Bedürfnissen von Mensch und Natur.

Bruttonationalglück in der Praxis

In Studien (Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung und Bhutan Living Standards Survey der Asian Developement Bank 2012) lässt sich die positive Entwicklung Bhutans auch tatsächlich belegen. Das Land hat es geschafft, eine stabile Demokratie zu entwickeln, und ist, vor allem im Bereich Bildung und Gesundheitsversorgung, weit vorangeschritten. Die Alphabetisierungsrate ist messbar gestiegen und eine medizinische Grundversorgung ist in allen Bereichen des Landes sichergestellt. Vor allem ist Bildung und Gesundheitsversorgung komplett kostenfrei für alle Bürger zugänglich.

Die Menschen werden vom Staat nicht nur in der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse unterstützt, sondern auch darin, ihre Glückskompetenz zu entwickeln. Dazu wurde eigens ein Bruttonationalglück-Zentrum geschaffen, welches Seminare und Schulungen anbietet, um die Kompetenz zum Glücklichsein zu entwickeln.

Dieses Zentrum ist inmitten der Natur Bhutans und sehr verhaftet in der buddhistischen Tradition. Es soll ein Ort der Gemeinschaft sein, an dem die Menschen zusammenkommen können. Insbesondere die Jugend möchte man ansprechen, denn wie auch in der westlichen Welt verlieren sie die Anbindung an Traditionen und streben nach dem Leben der westlichen Welt. Dies zeigt sich auch in einer starken Land-Stadt-Migration, die auch in der hohen Jugendarbeitslosigkeit begründet liegt.

Aber nicht nur in diesem Zentrum will man die Jugend erreichen, vom Kindergarten bis zur Universität werden sozial-emotionale Kompetenzen und eine Art säkuläre Ethik vermittelt. Durch den Beginn mit einer Achtsamkeitsmeditation am Morgen sollen die Kinder und Jugendlichen zum Beispiel Achtsamkeit und Mitgefühl für andere entwickeln. Der ganze Bildungssektor ist von diesem Konzept durchzogen, und die Kompetenzen in diesem Bereich werden genauso hochgehalten wie das intellektuelle Wissen, was die Schüler erwerben. Hinter dieser Pädagogik steht die Idee, dass Schule auch Lebenskompetenzen vermitteln muss, denn Wissen allein macht nicht glücklich.

Daran anknüpfend spielen auch Kultur und Traditionen eine wichtige Rolle und sollen es auch weiterhin, denn sie sind die Wurzeln der Menschen und Ursprung der Werte des Zusammenlebens. Der zentralste Wert ist wohl der des Mitgefühls für andere, nicht nur auf sich selbst bezogen zu sein, sondern auch Bezug zu den Mitmenschen zu haben. Die Spiritualität und Religiosität wird auch im GNH als sehr wichtig gewertet, denn Menschen erfahren hier ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und finden Halt in schwierigen Zeiten.

Der Naturschutz, der auch ein Regierungsziel darstellt, wird durch Artikel in der Verfassung manifestiert. Dort wird beispielsweise festgehalten, dass 60 % der Landesfläche für immer bewaldet bleiben müssen. Im Moment sind es 72 % Prozent, und diese Natur bieten vielen seltenen Tierarten eine Heimat.

In Bhutan gibt es auch noch Berge, die noch nicht bestiegen wurden, weil das Land dies einfach verbietet. 50 % der Landesfläche stehen nämlich unter Naturschutz (Vinh Tho 2015, S. 152). Auch der Tourismus wird zum Schutz der Natur stark reglementiert. Man hat sich bewusst für einen sanften Ökotourismus entschieden, der dadurch geregelt wird, dass ein hohes Tagesgeld von den Touristen entrichtet werden muss.

Des Weiteren möchte Bhutan im Bereich der Landwirtschaft Vorreiter sein und bis 2020 auf eine zu hundert Prozent ökologische Landwirtschaft umstellen. Da die meisten Bhutaner Bauern sind, ist das eine sehr wichtige Entscheidung.

Auch in der Elektromobilität will das Land ganz vorne mit dabei sein und produziert dafür im eigenen Land. Der ganze Fuhrpark der Regierung soll schon bald mit Elektoautos ausgestattet sein. Und das Land profitiert auch selbst davon, denn die Idee dazu kam von einem Ingenieur aus dem eigenen Land, und es wird auch in Bhutan produziert.

Was am Bruttoinlandsprodukt falsch ist

Soweit hört sich die Philosophie vom GNH und was daraus in der Praxis gemacht wird ja ganz gut an. Um zu verstehen, was westliche Demokratien daraus lernen können, muss aber zunächst deutlich werden, was an ihrer Orientierung am BIP problematisch ist. Definiert wird das BIP folgendermaßen:
„[…] das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das den Wert aller Güter und Dienstleistungen addiert, die in einem Land, genauer gesagt in einer Volkswirtschaft, innerhalb eines Jahres hergestellt bzw. bereitgestellt werden.“ (Vinh Tho 2015, S. 62) 
Die allgemeine Devise ist, wenn das BIP steigt, ist das gut für die Wirtschaft und damit auch für die Bevölkerung des Landes. Das Paradoxe jedoch ist, dass auch Dinge einberechnet werden, die für das Wohlergehen der Menschen negative Effekte haben.

Zum Beispiel zählt der Verkauf von Waffen positiv, ebenso wie der Aufenthalt von Menschen im Krankenhaus. Das heißt, ein Mensch, der krank ist, trägt positiv zum BIP bei, wenn er gesund und glücklich ist, taucht er in der Rechnung überhaupt nicht auf. Ebenso zählt Naturzerstörung positiv, wenn auf diesem Grund und Boden gebaut wird, auch wenn dadurch Arten sterben und wertvoller Boden versiegelt wird. Bildung und Erziehung sind sehr wichtig, tauchen aber im BIP ebenfalls nicht auf. Insgesamt wird im BIP also nicht gewertet, ob Erträge positiv oder negativ sind. Der Bruder von John F. Kennedy formulierte das mal so: „Das BIP misst alles, außer das, was das Leben lebenswert macht.“

Bhutan als Vorbild?

Wie eingangs erwähnt, suchen mittlerweile auch westliche Staaten Rat und Inspiration in Bhutan. Allerdings muss klar herausgestellt werden, dass Bhutan diesen Weg gehen kann, weil es ein sehr kleines, dünn besiedeltes Land mit geringer weltpolitischer Bedeutung ist. Diese Tatsache trifft auch auf andere glückliche Nationen wie Dänemark oder Costa Rica zu.

Häufig - und das gilt auch im Fall von Bhutan - hat die Bevölkerung eine gemeinsame kulturelle Identität und ist sehr homogen. Diese Grundvoraussetzungen haben europäische Staaten wie Deutschland oder Frankreich schon einmal nicht. Eine gezielt langsame Entwicklung wie in Bhutan ist für uns nicht mehr möglich, wir sind schon komplett von der Globalisierung eingenommen. Auch ein Rückschritt zu kulturellen Wurzeln scheint in einer multikulturellen Gesellschaft eher unrealistisch, aber in anderen Bereichen können wir uns sicher etwas abschauen.

Der Ansatz Bhutans ist es, das subjektive Wohlbefinden der Bevölkerung zu steigern. Die Menschen sind also glücklich, auch wenn sie vielleicht nicht so viel besitzen und verdienen, wie in vielen anderen Ländern dieser Welt.

In einem grundsätzlichen Aspekt können wir von Bhutan lernen, nämlich wieder mehr den Menschen in den Fokus politischen Handelns zu stellen als die Wirtschaft. Allzu oft entsteht besonders in Deutschland der Eindruck, dass viele Entscheidungen nur zum Wohle der Wirtschaft gefällt werden, das heißt, es wird nicht nach Auswirkungen für Mensch und Umwelt geschaut. Diese Aspekte mehr miteinzubeziehen, wäre ein erster Schritt.

Dies wird ja auch zum Teil schon durch die 2010 eingesetzte Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ realisiert. Diese ist aufgrund der Erkenntnis, dass das BIP nicht aussagekräftig ist, auf der Suche nach weiteren Indikatoren, um auch Wohlstand und Lebensqualität messbar zu machen.

Dass Deutschland hier seinen ganz eigenen Weg geht, ist vielleicht auch sinnvoll. Denn eine einfache Kopie des Bruttonationalglücks aus Bhutan würde den hiesigen Gegebenheiten nicht entsprechen. Die GNH-Philosophie ist schließlich tief buddhistisch geprägt und ist nicht mit unserer Kultur vergleichbar. Aber schon allein die Erkenntnis zu übernehmen, dass das BIP nicht alles abbilden kann, was für ein Land und sein Volk von Bedeutung ist, ist ein entscheidender Schritt.

Aus der Arbeit der Kommission ist der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) entstanden. Der Index erweitert das BIP, indem Umweltschäden mit eingerechnet werden, in Form der Treibhausgas-Emission und der Artenvielfalt. Der Sektor Soziales und Teilhabe wird auch mit abgebildet durch den Bildungsstand, die Beschäftigungsquote und auch die Lebenserwartung. Es geht letztendlich um deutlich in Zahlen ausdrückbare Indikatoren, nicht wie beim GNH um das subjektive Empfinden der Menschen. Dies ist aber im Falle von Deutschland eventuell auch sinnvoll, da mit Blick auf die Bevölkerungszahl eine solch individuelle Befragung viel zu aufwändig wäre. 

Aber natürlich geht es nicht nur um die Berechnung von Zahlen und das Erstellen von Umfragen. Ich denke, wir können auch in der praktischen Umsetzung von Bhutan lernen. Dabei möchte ich mich auf das Schulwesen konzentrieren.

Nach der PISA-Studie 2015 und der zugehörigen Umfrage sind Schüler in Deutschland insgesamt sehr zufrieden. Auf einer Skala von 0 bis 10 erreichen sie einen Wert von 7,35, der auch im Vergleich mit den anderen OECD-Ländern das Mittelfeld abbildet. Demgegenüber stehen Aussagen der Eltern, dass durch Schulvergleichstest der Druck immer weiter steigt und auch der Stress zunimmt.

Aber ein Blick in die Schulen zeigt, dass sich etwas Entscheidendes verändert hat. Eine Studie unter 5.000 Grundschullehrern, durchgeführt vom Forsa-Institut, zeigte, „dass die körperlichen und seelischen Probleme deutscher Grundschüler deutlich zugenommen haben“. Dies erfuhr ich auch in meinen Praktika, in denen mir ältere Lehrer erzählten, dass die Erziehungsaufgaben stark zugenommen hätten und Schüler immer öfter die Sozialarbeiterin aufsuchten. Ebenfalls beklagt wird, dass die Aufmerksamkeit der Schüler immer weiter sinkt. Wobei man fairerweise sagen muss, dass diese Fähigkeit den Schülern nicht explizit vermittelt wird.

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt, der zeigt, dass in Deutschland der Fokus doch sehr auf der Wissensvermittlung liegt. Schülerinnen und Schülern sollten aber auch einfach Kompetenzen zur Lebensbewältigung vermittelt werden.

Der Fokus liegt in Bhutan in der Schule zum Beispiel nicht darauf, die Schüler auf das Berufsleben vorzubereiten und sie in gute Jobs zu bringen. In der Schule sollen die Kinder zu guten Menschen erzogen werden und lernen, glücklich zu sein. Das heißt, sie lernen, einen respektvollen Umgang gegenüber allen Lebewesen an den Tag zu legen und Einzelinteressen werden eher untergeordnet. Die Gemeinschaft zählt.

Ein deutlicher Unterschied zum deutschen Bildungssystem, das zunehmend den Blick auf den Einzelnen schärft und die Individualisierung vorantreibt. Der Nachteil liegt darin, dass jeder mehr auf sich selbst schaut und weniger den Blick auf seinen Nächsten richtet. In Bhutan hat man verstanden, dass intellektuelles Wissen allein nicht genügt, sondern erst sozial-emotionale Kompetenzen einen Menschen dazu befähigen, dieses Wissen für ein glückliches Leben zu nutzen.

In Bhutan hat man ein international entwickeltes Programm dazu, das „Ethics and Education for Students and Teachers“ heißt. Dieses Programm hat eine säkuläre Ethik entwickelt mit dem Ziel, „Werte wie Mitgefühl, Menschlichkeit, Selbstlosigkeit und Großzügigkeit“ zu vermitteln.  Ein entscheidendes Mittel dazu ist die Achtsamkeitsmeditation, die in Bhutan zu Beginn des Unterrichts praktiziert wird. Sie soll helfen, solche Gefühle zu entwickeln, aber auch sich einen Moment zu konzentrieren und anzukommen. Eine Übung, die vielleicht auch hilft, Aufmerksamkeit zu lernen und nicht einfach zu erwarten.

Vielleicht scheint die Meditation im Hinblick auf Deutschland sehr fern unserer Kultur, jedoch werden die Werte auch in unserem Kulturkreis hochgehalten. Weswegen sich natürlich die Frage stellt, ob es sich nicht lohnen könnte, neue Wege zu gehen. In Bhutan legt man vor allem deshalb eher Wert auf die Entwicklung solcher Werte, da man der Meinung ist, dass sich das Wirtschaftssystem radikal ändern wird und man die Schüler darauf nicht vorbereiten kann und auch nicht muss. Die Schüler sollen in der Lage sein, mit diesen Veränderungen umzugehen. Ha Vinh Tho sagt dazu:
„Wir müssen ihnen [den Kindern] die Kreativität, das Selbstvertrauen und die Kraft vermitteln, das Neue, was geboren werden will, mitgestalten zu können.“
Dazu gehört auch, dass ein anderes Menschenbild vermittelt wird. Nicht das eines Homo oeconomicus, bei dem Konkurrenz und Wettbewerb das Handeln bestimmt, sondern vielleicht das eines Menschen, der Rücksicht nimmt auf die Natur und die anderen Menschen. In Bhutan will man die Gesellschaft damit von unten verändern, durch eine neue Generation, die durch eine andere Pädagogik, mit einem anderen Menschenbild und anderen Werten ins Leben entlassen werden.

Dieser Ansatz scheint erstrebenswert, denn auch in Deutschland sieht man, wie das, was in den Schulen praktiziert wird, die Gesellschaft widerspiegelt und andersherum. Wo Schulleistungstests und der Druck, einmal einen guten Job zu haben, bestimmend sind, werden nun einmal Wettbewerb und Konkurrenzdruck erzeugt und genau das spiegelt sich im Wirtschaftssystem wieder. Also sollte man vielleicht wirklich bei der nächsten Generation anfangen, um das System zu ändern. 

Literatur

Becker, Claudia (2016): Wie Eltern ihre Kinder zu Tyrannen machen. Online verfügbar unter https://www.welt.de/vermischtes/article155613160/Wie-Eltern-ihre-Kinder-zu-Tyrannen-machen.html.

Bundesministerium der Finanzen (2013): Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität in der Sozialen Marktwirtschaft. Online verfügbar unter http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Monatsberichte/2013/06/Inhalte/Kapitel-3-Analysen/3-2-wachstum-wohlstand-lebensqualitaet.html.

Holzki, Larissa (2017): Deutsche Schüler wollen gar nicht die Besten sein. Online verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/bildung/pisa-studie-deutsche-schueler-wollen-gar-nicht-die-besten-sein-1.3468852.

Michal, Wolfgang (2011): Das große Glück der kleinen Völker. In: Geo Wissen 47 : Die Welt verstehen (47), 126-137.

Mihatsch, Christian (2012): Was macht das Leben lebenswert? Online verfügbar unter http://www.badische-zeitung.de/wirtschaft-3/was-macht-das-leben-lebenswert--65667557.html.

Spieker, Markus (2016): Weltspiegel Reportage: Bhutan. Hauptsache Glücklich (Weltspiegel Reportage). ARD, 13.08.2016. Online verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=ViQQS022vug.

Tagesspiegel (Hg.) (2017): UN-Studie: Norwegen ist das glücklichste Land der Welt. World Happiness Report 2017. Online verfügbar unter http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/world-happiness-report-2017-un-studie-norwegen-ist-das-gluecklichste-land-der-welt/19542826.html.

Vinh Tho, Ha (2015): Grundrecht auf Glück. Bhutans Vorbild für ein gelingendes Miteinander. Unter Mitarbeit von Gerd Pfitzenmaier. 2. Auflage. München: Nymphenburger.

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